Julie Sassoon Quartet – Voyages

Julie Sassoon Quartet – Voyages

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Jazzwerkstatt

In Zeiten der Pandemie ein Album zu kreieren, das den Titel „Voyages“ trägt, scheint beinahe programmatisch. Konzertreisen sind ja in der Tat ein schwieriges Unterfangen geworden ebenso wie das Reisen generell. Unterschiedliche Regelungen nicht nur von Land zu Land, sondern auch zwischen den einzelnen Bundesländern in Deutschland führen zu Verunsicherungen, lassen geplante Konzerte ausfallen. So rückt an deren Stelle eine Veröffentlichung eines bestens eingespielten und gewachsenen Quartetts. Dieses besteht aus der Pianistin Julie Sassoon, dem Kontrabassisten Meinard Kneer, dem Drummer Rudi Fischerlehner und dem Saxofonisten und Klarinettisten Lothar Ohlmeier.

Pressestimmen loben die Pianistin und das Album, so auch John Fondham im Guardian:"The Sound of a Fascinating Original..." - „...Sassoon is a fascinating original, her piano world inhabited by Keith Jarrett’s lyricism and driving hooks and Steve Reich’s minimalism, but perhaps most significantly, the resources she has been accumulating through collaborations with unorthodox jazz and contemporary classical improvisers since the 1990s...“.  In der Frankfurter Rundschau war Folgendes zu lesen: „...Die Musik... geht oft wie staunend durch unbekannte Räume, die weniger durch krasse Farben als durch rätselvolle Details, eigensinnige Formverläufe und erstaunliche Tiefen charakterisiert sind. Die manchmal an etwas Älteres erinnern, oft aber an gar nichts und statt dessen eigene Wege beschreiten...“.

Ausgeprägte rhythmische Interaktion ist in „Missed Calls“ zu erleben. Dabei sorgt der Saxofonist Lothar Ohlmeier für einen klanglichen Malstrom. Man könnte auch an eine sich fortpflanzende Windhose des Klangs denken, derweil die Pianistin für eine durchgehende rhythmische Grundlinie sorgt. Das Dramatische und Aufbrausende ist gleich zu Beginn des Stücks zu vernehmen, ehe dann Julie Sassoon solistisch zu hören ist. Dabei mutet der Klang ihres Klaviers wie ein persisches Hackbrett an. Rollende Klangsequenzen sind herauszufiltern, unterstützt von einem treibenden Schlagwerkspiel. Voran, voran – das scheint die Botschaft. Stillstand gibt es nicht, auch nicht wenn die Pianistin in einen sprunghaft anmutenden Duktus wechselt. In diesen fällt dann der Saxofonist ein. Im Weiteren erleben wir klangliche Wildwasser, die uns Julie Sassoon präsentiert. Ist da nicht auch eine Gesangstimme zu vernehmen, die den Klangfluss begleitet? Kraftvoll werden die Klaviersequenzen gesetzt. Verwässerungen und Weichzeichnungen gibt es nicht. Da ist gewiss auch Geste mit im Spiel, so wie in der Malerei des Informel. Hier und da werden klangliche Farbspritzer gesetzt, so wie dies Jackson Pollock in seinen Drippings getan hat. Sobald der Saxofonist erneut seine Stimme erhebt, gleitet die Stimmung ins eher Erzählerische, gewinnt das Stück ein wenig Melodramatisches. Alles fließt dahin, ohne Unterlass, ohne, dass ein Ende abzusehen ist.

Schrille und farblich giftige Tonfärbungen bestimmen den Beginn von „Shifting“. Der Zuhörer ist geneigt an Industrial Noise zu denken, wenn der Kontrabassist seinen Tieftöner streicht. Metallisch klingt, was wir hören. Zugleich tauchen wir in ungeahnte Tiefen ein, aus denen wir in Klanghöhen enteilen – dank an Meinard Kneer, der uns solistisch ins Stück einführt. Im Bass verharrend ist die Pianistin im Nachgang zu hören. Sehr getragen und nicht so aufgebracht wie der Bassist ist Julie Sassoon am Werke. Man erlebt bedächtige Klangschritte, Stufe um Stufe. Ist da nicht auch ein Wehklagen zu vernehmen, das dem Saxofonisten des Quartetts geschuldet ist? Beim Solo von Lothar Ohlmeier meint man gar ein ausgewiesenes Lamento werde vorgetragen und muss an die Musik denken, die üblicher Weise am Totensonntag gespielt wird. Zugleich fühlt man sich beim Hören an die sogenannte Blaue Stunde erinnert. Nebelschwaden sieht man vor seinem geistigen Auge. Tau überzieht die Landschaft und nach und nach erhebt sich der Sonnenball am Horizont. Die ersten Frühaufsteher sind unterwegs, und der Saxofonist ist deren Begleiter, so könnte man bildlich formulieren, um das Gehörte zu erfassen. Und auch in diesem Stück scheint eine weiche weibliche Stimme im Off wahrnehmbar, oder? Das Ende des Stücks gehört dann dem sonoren und rauchigem Gebläse des Saxofonisten. Letztlich unterstreicht Lothar Ohlmeier, dass auch das Saxofon – man lausche den letzten Takten – Sinn für zarte Töne und pastellene Klangfärbungen besitzt und nicht ausschließlich ein röhrendes, schnalzendes, triumphierendes Gebläse an den Tag legt.

Tinitus, oh Tinitus – das mag mancher Zuhörer denken, wenn er den ersten Takten von „Jerusalem“ lauscht. Da gibt es Klangüberschläge des Bassisten, der zwischen Tieftönigkeit und dem Klang einer singenden Säge zu changieren scheint. Wir erleben eisige Klangbruchkanten begleitet von tropfenden Klavierklängen. Hier ein langatmiges Brumme und dort feine Klaviersetzungen nehmen wir wahr und meinen, beinahe schon Kristallines dechiffrieren zu vermögen. Im Weiteren hat man den Eindruck, Meinard Kneer nehme Anleihen an klassischer Musik, lasse sich auf Wagnersche Attitüden ein. Dunkel sind auch die Klangfärbungen, die der Saxofonist danach einbringt. Anschließend gleiten die Saxofonpassagen wie sich auflösende Cumuluswolken dahin. Im Hintergrund scheint ein röhrender Donner aufzukeimen, dank an Julie Sassoon. Verfällt Sassoon am Ende des Stück nicht gar ins Neoromantische?

Gleich einer opulent inszenierten Theaterszene kommt „Outside“ daher. Wenn man so will, wird man Zeuge von Blitzgewitter, Wetterumschwüngen, prasselndem Regen, überfluteten Straßen, rauschenden Bächen, die zu Strömen anschwellen – das ist ein Bild, das sich beim Zuhören aufdrängen kann. Nach der anfänglichen Dramatik beruhigt sich das Geschehen: Wir geraten in ruhiges Kehrwasser, dank an Julie Sassoon und auch dank an Lothar Ohlmeier. Heftiges Fellgewische mischt sich mit Bassläufen und feinster Gebläseziselierung. Ist da nicht auch eine Klarinette, eine Bassklarinette, mit im Spiel, wenn das Stück seinen Fortgang nimmt? Im zweiten Teil von „Outside“ meint man, thermische Aktivität zu erleben, aufschießende Geysire, brodelnde Schlammlöcher, Lavafluss, oder? Bleche schwirren und flirren unablässig, und die Pianistin verharrt im Diskant, der an Zerbrechlichkeit denken lässt. Am Ende meldet sich die Stimme des Saxofonisten und führt den Zuhörer zum Ende des Stücks. Den Schlussakkord setzt das Quartett mit „Melody“, einem Stück, dem eine besondere Dynamik und auch Tragik innewohnt, aber das trotz gebundener Form freien Geist atmet, oder?

© Ferdinand Dupuis-Panther




Infos

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