Eine Ausstellung mit vielen visuellen und akustischen Eindrücken ist das eine, ein Begleitband zu einer Ausstellung etwas anderes. Auffallend ist, dass in der vorliegenden Veröffentlichung auch der Ausstellungsarchitekt zu Wort kommt, um sein Konzept darzulegen, dass sowohl in der Farbgestaltung – man muss dabei an Pop Art jenseits von Andy Warhol denken – als in Bezug zu den verbauten Materialien – das vergängliche und temporär verbaute Sperrholz für die Vitrinenummantelungen – überzeugt. Eingestimmt wird der Leser durch einen Beitrag von Heinrich Theodor Grütter, der auf 60 Jahre Musik im Ruhrgebiet zurückschaut. Eine seiner zentralen Aussagen im Kontext von Struktur- und Wertewandel im Ruhrgebiet lautet: „Und so nimmt es nicht Wunder, dass 1956 bei den sogenannten „Jugendkrawallen“ nach Vorführen des Bill Haley-Films „Rock Around The Clock“ die Städte des Ruhrgebiets eine herausragende Rolle spielten ...“. Im Beitrag wird auch das Thema „Krautrock“ angerissen. Repräsentanten dieser Art von Rockmusik, so der Autor, waren Bröselmaschine und Franz K – benannt nach dem Schriftsteller Franz Kafka. Was für Berlin „Zitty“ war, waren im Pott „Guckloch“ aus Herne und „Marabo“ aus Bochum. Übrigens aus dem „Guckloch“ ging später „Prinz“ hervor. Auch dieses Magazin gibt es längst nicht mehr.
Wie die Ausstellung so beginnt der eigentliche Begleitband zur Schau „Rock & Pop im Pott“ mit einem Prolog. Keine Frage, am Ende steht dann auch ein Epilog. Das Kapitel „Bevor der Rock ins Ruhrgebiet kam“ aus der Feder von Christoph Schurian bringt uns nicht nur die Sangeskunst der aus Gelsenkirchen stammenden Claire Waldoff näher, sondern erinnert auch an den in Wanne aufgewachsenen singenden Schauspieler Heinz Rühmann („Die drei von der Tankstelle“). Im sogenannten III. Reich – und daran wird im Beitrag erinnert – war Jazz als „Niggermusik“ verboten, genau wie die „jüdisch geprägte“ Operette. Doch für Propagandazwecke nutzte man Jazz. Namentlich Charlie and his Orchestra spielten aktuellen Jazz, veränderten aber Originaltexte zu Schmäh- und Spottversen gegen Winston Churchill und schreckten dabei auch vor antisemitischer Hetze nicht zurück. Dieser Aspekt wurde in der Stuttgarter längst beendeten Schau „I got rhythm“ sehr ausführlich, auch mit Filmausschnitten behandelt. Schurian wirft außerdem in seinem Beitrag einen Blick auf den Werdegang von Kurt Edelhagen und streift auch die Gegenbewegung gegen den Jazz der Nachkriegszeit. Dabei spielt Fred Bertelmann aus Duisburg-Meiderich und dessen brave Schlagermusik („Der lachende Vagabund“) eine nicht unwesentliche Rolle.
Christoph Schurian blättert außerdem in der Geschichte des „Rock 'n' Roll im Ruhrgebiet“. Diffamiert wurde diese Musik in den 1950er Jahren wie einst der Jazz durch die Nazis: „Negermusik“ war der vielfach benutzte Begriff zur Abwertung der über den Großen Teich nach Europa gekommenen Musik, deren Wurzeln im Jazz, vor allem im Ragtime und Boogie Woogie zu sehen sind. Man kann es kaum glauben, aber Tonträger waren damals mit 7 DM beinahe unerschwinglich. So erfreute sich auch „Steigers Raupenbahn“ aus Oberhausen, ein Fahrgeschäft, das auf vielen Kirmesveranstaltungen präsent war, großer Beliebtheit. Die „Raupe“ wurde so etwas wie die erste deutsche Diskothek. Hier trafen sich Jugendliche und hörten die Musik der Zeit: Bill Haley und Co. waren die damaligen Helden! Der Autor bringt uns auch die ersten Rock 'n' Roll-Stars des Potts nahe, so Malfeld, aber auch The Elras-Brothers.
Diesen Aspekt vertieft dann Vera Conrad in einem ergänzenden Beitrag, in dem wir Wissenswerte über den Beat-Wettstreit in Recklinghausen nachlesen können, aber außerdem mehr über „The Sleepwalkers“; „The Viking Greenhorns“ oder „German Blue Flames“ erfahren, die mit dem Song der Small Faces „Sha-la-la-la-lee“ für Furore sorgten, im Pott natürlich. Es ist ebenfalls Vera Conrad, die sich auf den Aspekt „Musik und Politik“ fokussiert und die entsprechenden Veranstaltungen wie die Essener Songtage Revue passieren lässt. Christoph Schurian hingegen widmet sich dem Deutsch-Rock im Ruhrgebiet. Er stellt dabei unter anderem heraus, dass Franz K aus Witten ein Pionier des Deutschrock war. Es war eine Band, die 1969 entstand und ihr drittes Album „Rock in Deutsch“ nannte, auf dem 1973 neu entstandenen Label Zebra erschienen. Grobschnitt und ihr Bühnenprogramm wurde damals mit Alice Cooper verglichen, allerdings ohne Blut und Schlangen, so der Autor.
Wer kennt heute noch Amon Düül, Tangerine Dream oder Can oder gar Kraftwerk? Alle diese Bands überzeugten durch ausgefeilte Studioarbeit, teilweise mit selbst konzipierter Studiotechnik. Sie verstanden sich auf elektronische, bisweilen auch seriell anmutende Musik, weit vor Techno. Dem Punk im Pott hat sich Michael Lorenz zugewendet: „Punk war und ist als Ausdrucksmittel dieser Szene “Musik von der Straße für die Straße“, eine rohe und ungeschliffene Form des Rock 'n' Roll. Die Gitarrenparts sind häufig einfachtrivial einfach ...“ . So liest man es bei Michael Lorenz. Der Autor stellt dann nachfolgend Bands wie Hass und Die Upright Citizen vor, die aus Bottrop stammen. Die extremste Punkband waren The Idiots mit Sir Hannes Smith als Sänger. Da flogen nicht nur Bierdosen, sondern auch Haxen und Schweinsköpfe von der Bühne, sondern Sir Hannes Smith schlug sich auch schon mal mit einer Bierflasche auf den Schädel, der dann zu bluten begann. Dass auch die Welt des Heavy Metal Kunstprodukte jenseits der heute ach so beliebten Castingshows von RTL und Pro 7 kannte, wird am Beispiel von Randalica beleuchtet. Die Band, so Michael Lorenz, war eine Parodie schlechthin mit einer erfundenen Knastbiografie. Alle Mitglieder waren Journalisten, die sich in ihrem Brotjob um ein Musikmagazin kümmern mussten.
Dass unter anderem Nena ein Erfolgsrezept des Ruhr-Pops ist, behandelt Christoph Schurian in einem gesonderten Artikel, der zudem auch ein Auge auf die Hagener Band Extrabreit wirft.
„Hip-Hop und Gastarbeitersound“ ist ebenso ein behandeltes Thema der vorliegenden Veröffentlichung wie auch „Musik und Tanz“ oder „Produktion und Vermarktung“. Schließlich kommen auch die Musikidole des Potts nicht zu kurz und werden im Kapitel „Musikidole des Ruhrgebiets“ porträtiert, unter anderem Sasha und Herbert Grönemeyer.
Die Ausstellung wird irgendwann nicht mehr zu sehen sein, die Veröffentlichung wird als Chronik zur Pop- und Rockgeschichte des Potts jedoch Bestand haben.
Text: © ferdinand dupuis-panther 05/2016
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