The Bliss & Olivier Messiaen im Schloss Borbeck (Essen) am 29.4.2016

The Bliss nennt sich das Ensemble bestehend aus Katrin Scherer (Saxofon, Flöte, Komposition), John-Dennis Renken (Trompete), Sven Decker (Tenorsaxofon, Klarinette, Bassklarinette), Andreas Wahl (Gitarre), Sebastian Räther (Kontrabass) und Christian Thomé (Schlagzeug).
Diese Musiker stießen im Schloss Borbeck auf Maria Franzke, Ye-Kyung Hong und Tilman Wolf, die jeweils Stücke von Olivier Messiaen auf dem Flügel spielten, darunter Ausschnitte aus den „Zwanzig Betrachtungen des Jesuskindes“.
Die Kompositionen, die The Bliss, die Gruppe der „Glückseligen“ an diesem Abend vortrugen, sind frühere Kompositionen Katrin Scherers, die vor denen für ihr Trio Momentum entstanden.

Die Musik von „The Bliss“ steht, so vermittelte es Katrin Scherer, unter dem Einfluss der Kompositionslehre von Olivier Messiaen, dessen Werk Katrin Scherer sehr genau studierte und bezüglich der Kompositionstechniken sich zu eigen gemacht hat. Zugleich spannte sich an diesem Konzertabend der Bogen von der Klassik der Moderne zur zeitgenössischen Jazz-Avantgarde.
Olivier Messiaen (1908-92) begegneten die sehr zahlreich erschienene Gäste des Schlosses Borbeck in den teilweise mit sehr starker Akzentuierung und Verve vorgetragenen Klavierbeiträgen von Maria Franzke, Ye-Kyung Hong und Tilman Wolf. Zu hören waren die Schüler des beim Konzert anwesenden Professors der Folkwang-Universität der Künste (Essen), Thomas Günther, mit jeweils einem etwa knapp halbstündigen Vortrag in den beiden Sets des Abends.

Tilman Wolf hatte sich aus den „Vingt régards sur l'Enfant-Jesus“, einem zweistündigen Opus, wie er mir vor dem Konzertbeginn verriet, „Regard de L'Esprit de joie“ ausgewählt. Zu hören waren an einem sehr denkwürdigen Konzertabend, der die Grenzüberschreitungen wagte, aus den „Préludes“ zwei kurze Stücke wie „Ruhige Klage“ und „Spiegelungen im Wind“. Schließlich wurden wir dann noch auf die „Insel des Feuers“ entführt, aus „Quatre Études rhythmiques“ stammend.

Kurz und knapp: Olivier Messiaen

Olivier Messiaen (*10.12. 1908, Avignon; † 27.4.1992, Paris) gilt als Wegbereiter der seriellen Musik und ist einer der wichtigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Als Elfjähriger begann er seine musikalische Ausbildung am Konservatorium von Paris und gewann im Laufe eines umfassenden Studiums so ziemlich jeden Preis dieses Instituts, darunter erste Preise in den Fächern Kontrapunkt und Fuge, Klavierbegleitung, Orgel und Improvisation, Schlaginstrumente, Musikgeschichte und Komposition. Messiaen fand zunächst in der Kirche La Trinité in Paris eine Arbeit, die seinem Bedürfnis nach Musik und Spiritualität in gleicher Weise entgegen kam.
In diesem Kontext muss man auch seine Orgelimprovisationen, aber  ein Werk wie „La Transfiguration de Notre Seigneur Jesus-Christ“ betrachten.

Olivier Messiaen war außerdem überaus breit aufgestellt, befasste sich mit der Zahlenmystik, griechischer und indischer Rhythmik und dem Vogelgesang – man denke dabei an sein Werk „Catalogue d'Oiseaux“.

Ohren auf für Olivier Messiaen

Gut besucht war der Residenzsaal im ehemaligen fürstlichen Sitz eines adligen Damenstifts, das einst die Geschicke Essens lenkte. Nicht mehr die mittelalterliche Wasserburg, sondern ein Schloss mit Barock- und Renaissanceanmutungen war Schauplatz des Konzerts zwischen Klassik der Moderne und Gegenwartsjazz. Über den Köpfen der Konzertpianisten und später der Musiker von „The Bliss“ schwebte ein posaunender Engel, der einst wohl als Wetterfahne das Schloss zierte. Der sehr hohe Raum mit Spitzgiebel hatte eine Akustik, die m. E. schwer zu bespielen ist. Teilweise hatte man das Gefühl, man säße in einem gotischen Kirchenschiff, so voll klang es. Sakrales bzw. Musik mit starkem religiösen und christlich-spirituellem Bezug gab es zu Beginn zu hören.

Oliver Messiaen war bekennender Katholik, was sich auch in seinem Gesamtwerk niederschlug. So schien der Schatten werfende, schwebende Engel im Saal nicht deplatziert zu sein. Herr Prof. Thomas Günther hatte einen Querschnitt durch das sehr opulente Werk Messiaens angekündigt. Ohne Frage, dieser Ankündigung wurden seine drei Schüler in ihren Vorträgen überaus gerecht, ob sie nun Stücke aus den 1930er Jahren oder 1940er Jahren vortrugen.

Gleich zu Beginn konnten die Zuhörer der „frühlingshaften Lyrik“ Messiaens folgen. Dabei erinnerte der Duktus hier und da an Bill Evans, oder? Die Basshand war weitgehend unbeschäftigt. Zu hören waren beinahe ausschließlich die Sopranlagen des Klaviers, die perlend und kaskadierend anmuteten. Vorstellungen von ersten Sonnenstrahlen, die durch das Blattwerk der Bäume dringen, von rinnenden Bächen und von perlendem Tau auf den Blättern stellte sich als mögliches Bild im Kopf des einen oder anderen Zuhörers ein. Hörte man die Basslage, dann immer in einer Art Gegengewicht, mit Wucht, mit Energie und mit „einem Paukenschlag“, sehr unerwartet und die Konzentration des Zuhörers fordernd.

Beim nachfolgenden Opus hatte man gar den Eindruck, man sehe einem Papierschiffchen zu, das von Stromschnellen mitgerissen werde. Strudel waren zu vernehmen; hupfende Wasseramseln zu sehen – wenn man sich in eine eigene Bilderwelt eintauchte. Auch ein Vogelkonzert vermeinte man, beim Zuhören wahrzunehmen. Dies wäre angesichts der entsprechenden Studien, die Messiaen betrieben hat, durchaus naheliegend. Doch auch Donnerhall und Getöse drang ans Ohr der Anwesenden, zerriss den Klangfluss, ehe dann wieder springende Sequenzen gespielt wurden. Vorgetragen wurden diese „Kostproben“ von Ye-Kyung Hong.

Der sakrale oder religiöse Inhalt in Messiaens Werken ließ sich auch bei dem Vortrag von Maria Franzke durchaus ausblenden. Hörte man zu, dann meinte man ein Ticktick und Ticktack einer Standuhr zu vernehmen – Sinnbild der rinnenden Zeit. Geträller im Sopran stieß auf einen nachhaltigen Bass. Vogelstimmen und -rufe trafen auf die rinnende Zeit, gleichsam als Thema, über das fern der im Jazz gängigen Improvisationen schwebende Klanglinien variantenreich gesetzt wurden. Nie konnte man sich beim Hören auf einen lyrischen Wohlklang einlassen. Die Musik schien fragmentiert zu werden: Im ersten Moment hörte man fallende Wassertropfen und im nächsten Moment ein fernes Grollen.

Verschattung

Im Anschluss an den „klassischen Vortrag“ war es dann an Katrin Scherer und ihren Mitmusikern, auf Messiaen Antworten zu geben oder auch Fragen aufzuwerfen. Nein, The Bliss hat sich nun nicht an einer Verjazzung von Messiaens „20 Betrachtungen zum Jesuskind“ versucht. Doch Messiaens Kompositionsstil und dessen Herangehensweise an Musik waren und sind etwas, dem sich die in Köln beheimatete Altsaxofonistin und Flötistin sowie Bandleaderin Katrin Scherer sehr verbunden fühlt, wie sie vorab bemerkte.

Mit der Verschattung von Himmelskörpern – wir kennen zum Beispiel Sonnen- und Mondfinsternis – setzte sich das Sextett der Glückseligen – The Bliss bedeutet in der dt. Übersetzung Glückseligkeit – zu Beginn ihres Sets auseinander. Die Einleitung oblag Andreas Wahl an der Gitarre mit einer gewissen wiederkehrenden Klangfolge, so als würde man eine Linie, eine Kurve, in eine musikalische Form bringen. Kurze Schläge fielen auf die Bleche nieder, derweil die Bassklarinette ihre samten tiefe Stimme erhob, Weite und Tiefe konnte man mit dem Klangbild verweben.  Orchestral muteten die Passagen an, die von den Hörfarben her durch das Altsaxofon (Katrin Scherer) und die Trompete (John-Dennis Renken) bestimmt wurden. Aus dem Farbklang entwickelte sich ein Farbrausch. Bliebe man in der Bildsprache, so müsste man sich Jackson Pollock bei seinen gestischen Paint Drippings vorstellen.

Auch im Werk von Katrin Scherer setzte sich das Bruchstückhafte durch, hörte man die rotzige, beinahe punkig getönte Gitarre von Andreas Wahl. Dazu streichelte Christian Thomé seine Becken, ehe die Trompete die Ekstase einläutete, stets kommentiert von Andreas Wahl an der E-Gitarre. Zwischendrin setzte dann auch der Tieftöner in den Händen von Sebastian Räther zum Klanghüpfen an. Beim Gitarrensolo von Andreas Wahl musste man zur Kenntnis nehmen, dass Fusion bzw. Jazz Rock Teil der musikalischen Inszenierung war. Fett klangen die Riffs, fingen sich in dem sehr hohen Raum, schienen sich zu überschlagen, purzelten dahin. Der Rabatz war wohl intendiert. Der Höhepunkt der Dramaturgie der Verfinsterung eines Körpers schien sehr, sehr nahe. Der Berichterstatter ist kein Synästhet, aber ihm kam beim Zuhören von „Eclipse“ ein schillerndes Giftgrün in den Sinn.

Südafrikanische Impressionen

Mit „High Veld“ und „Low Veld“ entführten uns die Musiker ins Land am Kap der Guten Hoffnung. Grasland, Steppe, Savanne waren die ersten Assoziationen des Berichterstatters. Wer stapfte da denn umher, als der Bass erklang? Trötete da nicht in der Ferne ein Dickhäuter? Wollte uns die Bassdrum denken lassen, man hören den Hufschlag von Gnus? Afrobeats drangen ans Ohr, als Andreas Wahl in die Saiten griff. Während des Solos von Katrin Scherer meinte man, man würde eine holprige Piste befahren, um dem Ausflugsziel näherzukommen, dabei immer der Blick durch die Linse gerichtet. Während des folgenden Basssolos konnte man sich vorstellen, das Stapfen von Elefanten zu erleben. Sphärisches war außerdem zu vernehmen. Savannengelb mischte sich in diese Klänge.

Nach der Pause auch Préludes

Klangspiel und Rhythmustänze, kaskadierende Passagen, eine sich drehende Ballerina und fallende Wassertropfen – dies konnte man im zweiten Konzertteil in Versatzstücken hören. Selbst ein fulminantes Glockenspiel wurde den Zuhörern präsentiert, wenn auch kein Carrilloneur zugegen war, sondern Tilman Wolf am Flügel saß und desgleichen zum Besten gab. Sprünge, Läufe, Treppensprünge – immer wieder den Fluss brechend, auf den wir uns als Zuhörer eingelassen hatten. Nie verlief die Musik schemenhaft, stets auch mit der notwendigen Rasanz.

Widmung an Essen

Katrin Scherer, die lange in Essen gelebt hatte, widmete „Katernberg Katharsis“ der Ruhrmetropole. Katernberg ist, das für alle Auswärtigen angefügt, der Stadtteil Essens, dessen Geschicke aufs Engste mit der Zeche Zollverein verflochten waren. Längst ist diese Zeche stillgelegt worden. Sie ist nun UNESCO-Weltkulturerbe und repräsentiert einen wesentlichen Abschnitt europäischer Industriekultur. Katharsis bedeutet Reinigung, in der Psychologie das Ausleben innerer Konflikte und deren Bearbeitung. Von was muss sich Katernberg befreien? Vom überholten Image? Von der Marginalisierung?

Bereits beim Beginn des Altsaxofons drängten sich Bilder vom Schichtanfang auf der Zeche auf. Die Arbeit beginnt, schien die Trompete mit Sirenenklang zu signalisieren. Ventilatoren klappern, Laster rattern übers Pflaster, Maschinen stampfen, Rammen gehen auf glühenden Stahl nieder – all das schien die Musik einzufangen. Irgendwie hatte man aber auch den Eindruck, Kohlenstaub habe sich wie Mehltaub ausgebreitet, so beinahe erstickt mutete das Stückl an. Ganz im Kontrast zu all dem Industriellen erweckte das Solo von Andreas Wahl auf der akustischen Gitarre das Bild eines entspannten Nachmittags, gefülltee Biergärten und Revierparks, von Lebensfreude und vom Vergessen der Knochenmühle Zeche. Fein ziseliert war das, was uns da dank Andreas Wahl akustisch umgarnte, während sich der Bass brummend in seiner Klangwelt eingerichtet hatte.

Irgendwie auch Frank Zappa

Noch ein abschließendes Wort zu Katrin Scherers Komposition „Draft“. „Windzug“? Nein, Katrin Scherer klärte das Publikum darüber auf, dass sie dieses Stück Ruth Underwood gewidmet habe, die einst Mitglied von Franz Zappas legendären Mothers of Invention war. Durfte man also auf  Zappa-Allerlei hoffen? Man durfte auf Wildes und Experimentelles nicht nur hoffen, sondern bekam es auch geboten. Dabei hatte Katrin Scherer das Altsaxofon gegen die Querflöte getauscht. Sie brachte uns also die richtigen Flötentöne bei, gewürzt mit Frequenzstörungen, mit Kling und Klang, mit Gerassel, Geklirre - natürlich in fragmentierte Portionen und homöopathischer Dosis serviert. Kullerten da nicht gerade Blechnäpfe eine Eisentreppe herunter? Nein, das war Christian Thomé mit seinem Schlagwerk. Während ein gleichsam schräges Lamento angestimmt wurde, hielt der Bass in den Händen von Sebastian Räther seine Mitte. Eine aufschreiende Trompete – dank an John-Dennis Renken – sorgte für das Furioso, in das alle Musiker von The Bliss einfallen – beseelt von Glückseligkeit, gemeinsam diese Musik spielen zu dürfen. Die Anwesenden dankten es allen, die an diesem Abend beteiligt war, mit sehr herzlichem Applaus.

Text und Fotos: © ferdinand dupuis-panther

Informationen

Schloss Borbeck (Essen)
http://www.schloss-borbeck.essen.de/veranstaltung.htm

Musiker
Sven Decker
http://www.sven-decker.de
http://www.soundcloud.com/svedeck

Katrin Scherer
http://www.katrinscherer.de
http://www.katrinscherer.de/sites/projekte.html
http://www.jazzhalo.be/interviews/katrin-scherer-auf-den-moment-kommt-es-an-im-gespraech-mit-der-koelner-altsaxofonistin/



 

Andreas Wahl
http://www.andreaswahl.net/

Sebastian Räther
http://sebastian-raether.de/

Christian Thomé
http://christianthome.com/

John-Dennis Renken
http://www.john-dennis-renken.com/john-dennis-renken.html

Musik von Olivier Messiaen

Olivier Messiaen Improvisations


Olivier Messiaen: Fête des belles eaux (1937)


Olivier Messiaen: Quartet for the End of Time


Olivier Messiaen: La Transfiguration de Notre Seigneur Jesus-Christ


Olivier Messiaen, Vingt regards sur l'Enfant-Jésus (Yvonne Loriod)

Olivier Messiaen, Catalogue d'Oiseaux




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