Protokolliertes Chaos in Münsters Black Box

Das aus der Schweiz stammende Trio Kaos Protokoll steht für kultiviertes Chaos, für das Unvorhersehbare, das vorhersehbar wird und im nächsten Moment wieder nicht. KAOS Protokoll steht auch für den aus Zürich stammenden Flo Reichle (Schlagzeug), den Berner Marc Stucki (Saxophon) und den aus Graubünden gebürtigen Benedikt Wieland (E-Bass). Der Crossover-Jazz des Berner Trios ist manchmal wild und hart, manchmal herzlich und eingängig, oftmals melodisch und dann auch exaltiert und tonal umkippend, augenzwinkernd und skurril. Brutal groovige Beats und rockige Passagen sind zu hören. Das von Marc Stucki mit Leben erfüllte Saxofon versteht sich auf Schrilles und auf schmeichlerische Lyrik. Gemeinsam schmieden die drei Musiker höchst abenteuerliche Arrangements. Sie entlehnen diese aus Rock, Jazz, Funk und Elektronik, ohne die, so Marc Stucki in einem Vorgespräch zum Konzert, die „Musik im Chaos“ auch nicht funktionieren würde. Stets, so betonte er, sei eine einleitende Struktur erkennbar, die sich in weitschweifigen Improvisationen auflöse. Stets jedoch könne die Struktur des Chaos nachgezeichnet werden.



An diesem späten Novemberabend bei erstem leichten Schneetreiben stellte die Schweizer Band ihr jüngstes Album vor: „Questclamationmarks“. Worum geht es? Um Herausforderung? Um ein Ausrufezeichen? In dem Titel sind gleich zwei Satzzeichen miteinander verwoben worden: Fragezeichen und Ausrufezeichen; in Englisch: Question Mark und Exclamation Mark. Wer genau auf das im Stil des Konstruktivismus gehaltene Cover schaut, entdeckt die beiden Satzzeichen, entdeckt die Frage und die Feststellung! In einem komprimierten Programm wurden jedoch nicht alle Titel des Albums präsentiert, das mit „Levitate“ aufmacht, in „Ein Stück zum Mitsingen“ zum Mitsingen auffordert und mit einem „Wiegelied“ endet.

Mit „In The Secret City“ wurde das „Chaos“ eröffnet, das sich als ein Wechsel von gebundenen und ungebundenen Formen erwies. Marc Stucki war zunächst nicht mit seinem Saxofon zu hören, sondern mit seiner Melodica, die sich in Redundanz sonnte. Sie klang wie „Hallo Sie da! Hallo Sie da! Was machen Sie da?!“ Derweil kommentierte der Bass das Geschehen, ließ es knarren und knistern. In einen rockigen Modus glitt der Bass dann nachfolgend ab, derweil Marc Stucki seine ostinate Form weitertrieb, die sich leicht in Dadada und Jajaja verwandelte. „Elektronisches Spielzeug“ spielte eine nicht unwesentliche Rolle beim Gang durch die geheime Stadt. Irgendwann im Verlauf des Stücks verspürten die Zuhörer eine heftige Böe. Grunzend und klappernd zeigte sich das Saxofon im weiteren Fortgang des Besuchs in der geheimen Stadt, die es wie Bielefeld ja eigentlich nicht gibt, jedenfalls so die Mär. Die Stadt im Osten Russlands schien irgendwie eine besondere Klangform zu haben. Jedenfalls spielte Stucki mit Delays, sodass sich ein verwobenes Klangmuster mit Echoeffekt ergab. Klickklickklick – tanzende Sticks in den Händen von Flo Reichle waren die minimalistischen Akzente, die das Schlagwerk zum Stück beitrug. Zwischenzeitlich glaubte man sich, dann mit Paul Horn in der Pyramide von Gizeh oder im Tadsch Mahal zu befinden. Wechselstimmungen präsentierte das Trio fortlaufend, zwischen Melodischem und tonalem „Wirrwarr“ pendelnd.

Entstanden ist dieses Stück, so erläuterte Benedikt Wieland, im Rahmen einer Russlandtournee, bei der sie auch die geheime Stadt K26 in Sibirien besuchten. Jahrzehntelang war diese Stadt eine verbotene Stadt, weil hier, so Benedikt, vermutlich Uran und Plutonium angereichert wurden. Dies geschah in der Periode des sogenannten Kalten Kriegs. Irgendwie erschien der Besuch der Band, so Benedikt weiter, wie der Besuch in einer Stadt, die es nicht gibt, wenn auch das Stadtbild an eine Kopie von St. Petersburg in modernem Gewand gleicht.

Mit dem nächsten Stück blieben wir noch im fernen Sibirien: „Good Morning Krasnoyarsk!“ Die Idee zu dieser Komposition fiel Marc Stucki wirklich an einem frühen Morgen ein, als die Band unbedingt ein Taxi erreichen musste, um die Tour fortzusetzen, die sie begonnen hatte. Der Abend und die lange Nacht zuvor wurden feuchtfröhlich begangen, das Hotel in aller Herrgottsfrühe noch erreicht und in aller Eile habe er, Marc Stucki, seine Unordnung schnell in den Koffer gepackt. Auf der zugegeben sehr langen Hoteltreppe kam dann die Idee auf, dem frühen Morgen in Sibirien ein „Lied“ zu widmen.

Der Morgen begann, jedenfalls musikalisch, nicht verschlafen, sondern ein wenig groovy und funky. Irgendwie klang es putzmunter, was die drei Schweizer Jazzer da in der Black Box zum Besten gaben. Doch alsbald stellte sich das morgendliche Alltagstheater ein, die Hektik, der Gedanken ans Zuspätkommen, die Sorge um den verpassten Busanschluss und der Gedanke, doch etwas vergessen zu haben. Die Stadt erwachte, so hatte man den Eindruck, schließlich mit all dem urbanen Getöse, das jeder von uns kennt: Es war der ganz gewöhnliche Wahnsinn, der um 6.30 Uhr begann, nachdem bei der Fußball-WM Brasilien von Deutschland aus dem Turnier geworfen worden war. Woher wir das wissen? Durch einen kurzen Einwurf von Flo Reichle!

Im Fortgang des Konzerts schien das virtuose Spiel mit dem elektronischen Zauberkästlein zuzunehmen. Neben einem betonten Jajaja des Saxofons vernahm man ein Drdrdzzbzz und andere effektvoll eingesetzte Geräusche. Irgendwoher drängten sich gestörte Frequenzen auf. Trällern und Trillern wurden eingeblendet. Bisweilen musste man bei den Saxofonpassagen an das Hopsen von Stufe zu Stufe denken. Rollte da nicht in Odessa der herrenlose Kinderwagen über die Stufen – eine sehr bekannte Szene aus „Panzerkreuzer Potemkin“? Marc Stucki ließ in der Folge seinen modulierten Holzbläser schwirren und schwingen, entlockte ihm ein Quackquackquack, ehe er dann in einen Donald-Duck-Stimmmodus verfiel so, als habe er mal ein wenig Heliumgas eingeatmet und versuche nun mit seinem Atemrohr zu sprechen. Dazu grunzte der Bass tieftönig, flogen die Sticks vehement über die Bleche des Schlagzeugs. Dann war plötzlich und unerwartet Schluss.

In einem weiteren Stück brillierte Benedikt Wieland mit einem im wahrsten Sinne von Effekten dominierten Basssolo, zu dem sich erst spät Marc Stucki mit seinem schreienden Holzbläser gesellte, der sich nach und nach außerdem als zartbeseitete Windmaschine und Atemrohr entpuppte.

„Auf, lass uns mal singen“, hieß es an diesem sehr unterhaltsamen und variationsreich inszenierten Musikabend im cuba. Die Melodie, so erklärte Benedikt Wieland, der Bandleader des Trios, sei selbsterklärend, sodass bei „Ein Stück zum Mitsingen“ auch jeder einstimmen könne. Dadadabadabdawabdadahöhö – so schien es im „Dreiklang“ zu klingen. Danach röhrte es gewaltig, als das Trio alles aus den jeweiligen Instrumenten herauskitzelte, was möglich war. Kurz war dieses Intermezzo und dann ging es mit Dadababada weiter und auch Bäbäbawa hörte man. Das Saxofon übernahm anschließend die Stimmenhoheit und echauffierte sich mächtig. Fast meinte man, Marc Stucki würde die Stimmgewalt seines Blasrohrs gänzlich ausreizen, so dass dessen Stimme sich überschlägt und dann verstummt.

Zwischenzeitlich hatte man beim Zuhören auch den Eindruck, es würde der Pogo auf der Bühne getanzt. Am Ende gab es dann noch einen Rausschmeißer oder auch Betthupferl, in Schwyzerdeutsch Bettmümpferli. Fürwahr, nach all der Bewegtheit und Aufgeregtheit an diesem Abend hörten die Anwesenden eine Art Abendlied zur Guten Nacht, jenseits von „Der Mond ist aufgegangen“. Ob es das letzte Stück auf dem jüngsten Album „Wiegelied“ war, verrieten die Drei dem Publikum jedoch nicht. Das tat dem sehr gelungenen Abend aber überhaupt keinen Abbruch.

© ferdinand dupuis-panther

Informationen

Musiker
http://www.kaosprotokoll.ch

Audio
http://www.kaosprotokoll.ch/de/media/

Marc Stucki
http://www.stuckimusic.ch

 


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