Jaggat „Über alle Grenzen hinweg“

Kunsthalle Recklinghausen 16-10-2020



Die Zeiten sind nicht einfach. Eine zweite Welle der Pandemie scheint das Land fest im Griff zu haben. Die Einschränkungen häufen sich, auch im Kulturleben. Konzerte werden zu einer Art neu-höfischem Ereignis für einen ausgewählten Kreis von Zuhörern. So waren auch nur 35 Zuhörer in der Kunsthalle Recklinghausen zugelassen. Während des Konzerts mit Jaggat bestand außer für die Musiker die Pflicht, eine Mund-Nasen-Maske zu tragen. Im Vorfeld des Konzerts war Folgendes zu lesen: „Das Trio Jaggat spannt gekonnt melodische Bögen zwischen Weltmusik und kammermusikalischem Jazz. Die Musiker vereinen spanische, indische, arabische und lateinamerikanische Einflüsse zu einer ausdrucksstarken musikalischen Mischung. Es ist eine Musik, die sich über kulturspezifische Kategorien hinaus bewegt und so ein facettenreiches, einzigartiges musikalisches Spektrum bildet. Neben hauptsächlich eigenen Kompositionen von Conrad und van Meel spielt das Trio u.a. Stücke von dem tunesisch-französischen Oud-Spieler Anouar Brahem.“



Auf der Bühne war dann Spielfreude pur zu erleben, dies- und jenseits klassischer Jazzstandards und Improvisationen. Abseits des Musikalischen erlebten die Zuhörer eine sehr dichte gestisch-mimische Interaktion zwischen dem Kontrabassisten Caspar van Meel, dem Gitarristen Markus Conrad und dem Perkussionisten Afra Mussawisade. Da wurden Klangfäden kreuz und quer gesponnen, vor dem Hintergrund von Farbmalereien von Kuno Gonschior, dessen Arbeiten ein wenig an Victor Vasarely erinnern.

Nachdem bedingt durch die Pandemie im Frühjahr das Konzert mit dem Jazz Lounge Archestra feat. Charlotte Illinger ausfallen musste, wurde nun mit Jaggat der Herbst-/Winterzyklus der Reihe Jazz Sparda Lounge eröffnet. Alles war natürlich abgestimmt auf die Verordnungen angesichts der Pandemie. Abstand war geboten, zwischen Musikern und Publikum und zwischen den verschiedenen Zuhörern. Vokales gab es ebenso wenig zu hören wir Bläsersätze, die ja so typisch für Jazz sind. Der künstlerische Leiter der Jazzreihe in der Kunsthalle, der Gitarrist Ingo Marmulla, verwies in seinen einleitenden Worten darauf, dass man mit dem aktuellen Programm dem Kammermusikalischen eine Chance einräumen wolle. Und so konnten sich die Zuhörer auch auf leise Klänge freuen, auf Klanglinien und -schraffuren, die stets der Schönheit des Melodischen unterworfen blieben.


Den Anfang machte eine Komposition von Markus Conrad namens „Friday Night“. Die Nähe zu „Friday Nights in SanFrancisco“ war beabsichtigt. Flageolett traf auf perkussive Sanftheit. Diente da nicht auch ein ausgehöhlter Kürbis als Schlagwerk? Waren da nicht auch Klangschalen zu hören? Und statt einer Basstrommel wurde mit dem Fußpedal ein „Schellenring“ zum Klingen gebracht. Klangwelten, die an Meeresrauschen und an warme Winde denken ließen, nahmen die Anwesenden wahr.

Das Trio war schon beim ersten Stück kein Monolith, sondern zerfiel in Individualitäten. Phrasierungen von Markus Conrad nahm nachfolgend Caspar van Meel auf und brachte seinen Kontrabass beinahe zum Tanzen. Handflächen huschten über verschiedene Trommeln und Bleche. Aus einem begonnenen Solo entwickelte sich ein Duett, ohne ins Unisono zu verfallen. Flamenco-Anklänge füllten die Kunsthalle, auch ohne stampfende Tanzschritte auf Dielen. Dies war Markus Conrad und seinem sehr umsichtigen Fingerspiel zu verdanken. Afra Mussawisade dagegen evozierte die klackenden Schritte eines Flamencotänzers, wie wir ihn zum Beispiel aus der Verfilmung von „Carmen“ kennen. Diskantes Saitenspiel begleiteten die akzentuierten „Schritte“.


Nachfolgend ging es um „1, 2 und 5“ und Caspar van Meel meinte in einer kurzen Vorstellung des Stücks, dass man das auch sehr leicht heraushören könne. Melancholisches ergriff uns, als Caspar van Meel seinen Bass langsam strich und in die Tiefen des Basses abdriftete. Folgte da nicht Markus Conrad in einem Schema von 1,2 und 5? Finger tippten kurz auf die Bleche, deren Klang schnell verhallte. Da war dann auch ein Hang, eine Art Klangschale, zu vernehmen, oder? Einen Hochgenuss bereitete Markus Conrad dem Publikum mit seinem fein ziselierten Fingerspiel auf den Saiten. Dabei changierte er zwischen sephardischen Weisen und Flamenco, so hatte man als Zuhörer den Eindruck. Klangliche Sanddünen wanderten vor den Augen der Anwesenden hin und her. Sandkörner des Klangs wurden aufgewirbelt. Gewichtig mischte sich der Bass dann in die Leichtigkeit des Stücks ein und sorgte für „Oje!“ und „Ole!“ sowie „Hola“. Bisweilen aber drängte sich auch der Eindruck auf, die Welt des Orients und der Derwische würde durch die drei Musiker zugänglich gemacht.


„Kopf über“ hieß es dann, wobei sich punktierte Bassläufe mit Saitenklopfen vereinte. Nein, eine Guembri war nicht Teil der Instrumentierung, aber der Bass kam den Färbungen dieses Saiteninstruments aus Westafrika sehr nahe. Auch ohne Kora und Kalimba tauchten wir mit nachhaltiger Rhythmik in die Welt afrikanischer Weltmusik ein. Wäre ein Bläsersatz eingebunden gewesen, dann hätte man sich wohl auch an die aufgeladene Musik von Fela Kuti erinnern können. So aber schienen wir eher, afrikanischen Geschichtenerzählern zuzuhören. Das Poetische und Epische drängte sich auf. Timbuktu schien nahe und die Weiten der Sahara, auch als Tränen des Sandes zu begreifen.  Nicht nur der Gitarrist, sondern auch der Bassist ließ uns das Epische erleben. Und das Perkussive war eine Beigabe, ob die Handflächen auf Bleche schlugen oder auf das Fell der Darbuka.

In Zeiten des sogenannten Lockdown, in dem auch das Unterrichten schwerfiel, komponierte Markus Conrad „Waldweg“. Fürwahr, er habe sich, so der Gitarrist, ab und an in den Wald zurückgezogen, um den Kopf frei zu bekommen, insbesondere nach Stunden des Online-Unterrichtens. Songhaft erschien das Stück, auch wenn die Lyrik nicht vorhanden war. Man musste beim Zuhören ans Kriechen durchs Unterholz denken, aber auch an Abzweigungen, die fälschlicherweise genommen wurden. Akustische Blicke wurden vermittelt und verwunschene Pfade mit Klängen nahegebracht. Laufschritte nahmen wir wahr, aber auch ein Auf und Ab, so jedenfalls war das Saitenspiel zu interpretieren.


„Toktoktoktata“ ließ sich der Perkussionist vernehmen, auch mit dem Spiel auf der Rahmentrommel. Und die Musiker begaben sich wohl auf Abwege und liefen wohl gegen einen im Weg stehenden Baum. Wer hatte auf einem „Waldweg“ damit gerechnet? „Irina's Tune“ ist einer ehemaligen Freundin des Bassisten zu verdanken, die ein wenig auf dem Klavier klimperte und damit zur Ideengeberin einer Komposition wurde, unfreiwillig wohl. Entstanden ist ein Stück mit einem bisschen Latino-Flair, denn Rumbarhythmen durchziehen es. So reisten wir dann auf einem schwebenden Klangteppich nach Rio, nach Cartagena oder Montevideo. Recklinghausen schien ganz fern. Unbeschwertheit vermittelte das Trio, vor allem auch dank der Leichtigkeit des Fingerspiels der beiden Saitenvirtuosen.

Nicht allein Eigenkompositionen standen auf dem Programm, sondern auch eine Hommage an John Coltrane. Komponist des Stücks ist der Bassist Stanley Clarke, der auch in einer Trio-Besetzung mit Al Di Meola und Jean Luc Ponty aufgetreten war, um sich vor „Trane“ zu verneigen. Getragene Basslinien stießen auf Gitarrencrecendos, aber auch Feingewebe und Makramee der Saiteninstrumentalisten generell. Im Weiteren hieß es dann „Badhra“, komponiert von dem aus Tunesien stammenden, aber schon seit Jahrzehnten in Frankreich lebenden Anouar Brahem. Auch dieser Musiker hat gemeinsam mit John Surman und Dave Holland in einem Trio gespielt, um den genannten Titel vorzutragen. In jeder Sekunde schienen sich Markus Conrad und Caspar van Meel die Klangbälle zuzuspielen, wie beim Ping-Pong. Nein, keiner der beiden hatte sein Instrument umgestimmt oder durch ein elektronisches Zauberkästlein zur Oud moduliert. Der Bass blieb der Bass, die Gitarre die Gitarre, die beide orientalischen Wohlklang verströmten. Doch die Harmonien des Stücks schienen auch Grieg und Sibelius, also die Wehmut des Nordens, lebendig werden zu lassen. Beim Zuhören musste man auch an Enttäuschung und Einsamkeit denken, an Ferne versus Nähe, an die einsamen norwegischen Hochebenen und die endlosen finnischen Wälder. Hier und da blitzten Gedanken an Al Andalus auf, an den kulturellen Schmelztiegel auf der Iberischen Halbinsel – lange ist es her.


Schließlich verabschiedete sich das Trio van Meel-Conrad-Mussawisade vom Publikum mit „Ramenco“, einer Komposition von Markus Conrad. Doch, Caspar van Meel kehrte, nachdem der letzte Ton verklungen war und nach dem Abgang des Trios, nochmals auf die Bühne zurück, um seine neueste CD anzupreisen. Das Publikum missverstand das als Bereitwilligkeit zur Zugabe. Dafür hatten sich die drei Musiker ein Standard ausgesucht, der sonst in vielen Interpretationen einer Schnulze gleicht, nicht so an diesem sehr gelungenen Konzertabend. Mit „Softly as in a morning sunrise“ ging es dann in die Nacht. Der Sonnenaufgang musste warten.

© Fotos und Text ferdinand dupuis-panther.
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Informationen

https://kunsthalle-recklinghausen.de/ausstellungen-1
http://casparvanmeel.com/de/
http://afrabeat.com
http://grandjamband.com/
http://www.ohrlaub.net/info.html



Weitere Konzerttermine unter Vorbehalt

13. November 2020 - 18.00 Uhr
Thomas Hufschmidt & Friends
Der Esserner Pianist und Komponist ist ein seit langem bekannter Interpret des Modern Jazz. Neben seinem Wirken in deutschen Jazzbands besuchte er Clinics bei Attila Zoller, Don Friedman und Walter Norris in den USA. Es folgten Tourneen ua. mit Musikern wie Jan Akkerman, Albert Mangelsdorff, Uli Beckerhoff oder Tony Lakatos Goethe-Institut Tourneen führten ihn durch Europa. 2006 begleitete er Carla Bley bei der Essener Aufführung der Jazz-Oper "Escalator over the Hill". Hufschmidt ist seit 1990 Professor für Jazzpiano, Theorie und Bigband-Leitung an der Folkwang-Hochschule in Essen. Er schrieb auch Theater- und Filmmusik (ua. für Adolf Winkelmann). Die "Friends" sind langjährige Wegbegleiter. Mit Thomas Alkier am Schlagzeug kehrt ein Wahlberliner in seine Heimatstadt zurück. Ingo Senst gehört ebenso wie Alkier zu Hufschmidts Trio. Gemeinsam ist das Quartett u.a. mit Molly Duncan, Gerd Dudek und Klaus Osterloh unterwegs gewesen. Neben gemeinsamen Konzertauftritten verbindet die Gruppe eine gemeinsame Klangsprache.

11. Dezember 2020 -  18.00 Uhr
Ramesh Shotham - Eastern Flowers
Wer Ramesh Shotham auf der Bühne beobachtet, jenen freundlichen, kahlköpfigen, in sich ruhenden, indischen Percussionisten, wie er an der Seite von Rabih Abou Khalil, Steve Coleman, Sigi Schwab, Carla Bley oder anderen Jazz und Weltmusikgrößen filigrane Patterns webt, wird kaum ahnen, dass seine Karriere als Rockgitarrist in Indien begann. Mitte der 1970-er entdeckte Ramesh Shotam die Tavil und beschloss, diese Trommel richtig zu studieren Als Mitglied des Karnataka College of Percussion lernte er u.a. die deutschen Ethno-Pioniere Embryo kennen, ebenso den musikalischen Weltbürger Charlie Mariano. "Mir gefiel die Aufgabe, musikalische Sprachen zu übersetzen, Lösungen zu finden, unterschiedliche Konzepte zusammenzubringen". Ebenfalls "indisch-deutsche" Wurzeln haben seine beiden Mitmusiker am Bass und an den Tasten. An diesem Abend treffen nicht nur unterschiedliche Musiksprachen aufeinander, sondern auch Instrumente aus verschiedenen Kulturen.

Anmeldung erforderlich unter:
Kunsthalle Recklinghausen
Tel.02361-501935 oder
info@kunst-re.de - Eintritt frei


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