Internationales Jazzfestival Münster 2019: Spotlights 1-3

AXES (PT) - KRZYSZTOF KOBYLINSKI & ERIK TRUFFAZ (PL/FR) - DANIEL ERDMANN’S VELVET JUNGLE (DE/FR/GB/CH)




Das Internationale Jazzfestival Münster feiert in diesem Jahr den 40. Geburtstag. Noch immer geht es dem künstlerischen Leiter Fritz Schmücker darum, ein Programm der Kontraste zusammenzustellen, also nicht etwa „Die Kunst des Pianos“ oder Crossover pur vorzustellen, sondern verschiedene Klangströme und -färbungen gegen einander zu setzen. Das ist auch diesmal der Fall. Form und Aktion, Inferno und klanglicher Lavastrom der aus Porto stammenden Band AXES traf auf die eher lyrischen Tönungen des Duos Kobylinksi-Truffaz. Anschließend nahm uns dann Daniel Erdmann mit seinem Trio auf eine musikalische Entdeckungstour mit, die Berlin und Finnland, aber auch Mali einschloss.


AXES

Henning Bolte schrieb in Al About Jazz über die Band: „João Mortágua ist endlich ein markanter Saxophonist der jüngeren Generation. Er hat Ideen über die Beziehung und Kombination von Form, Aktion, Stil und Energie im Jazz ausgesprochen und einen starken Drang, ihnen Form zu geben. Sein eigenes Sextett AXES ist ein sehr bewegliches, volatiles und verspieltes dynamisches Wesen mit einem besonderen Line-Up von zwei Drums und vier Saxophonen. Kurz gesagt: ein sehr originelles Konzept und eine großartige Umsetzung. AXES ist eine Einheit, die definitiv bereit ist, die Stufen nach Osten oder Norden zu nehmen und auch dort zu glänzen."

Boltes Worte fangen eigentlich nur die Oberfläche ein, die das musikalische Konzept der Band ausmacht, die aus meiner Sicht in einem Atemzug mit ähnlich großen oder größeren Formationen zu nennen ist. Das schließt Flat Earth Society ebenso ein wie das Andy Emler MegaOctet. Kraftvoll charakterisiert die Band ebenso wie infernalisch, energiegeladen wie theatralisch bis zirzensisch.

Kontrabass oder Piano als Teil der Rhythmusgruppe suchte man auf der Bühne des Theaters Münster vergeblich. Dafür gab es geballte Macht der Holzbläser, angefangen von Sopransaxofon über Alt- und Tenorsaxofon bis hin zu dem tieftönigen Baritonsaxofon, das mal nicht versuchte, sich an die stimmliche Seite des Tenorsaxofons zu stellen, sondern die Tiefen des Instruments vor den Zuhörern ausbreitete.

Kopf der Band, ohne sich unangenehm aufzudrängen und alle Solos für sich zu beanspruchen, ist João Mortágua, der mal Sopran- und mal Altsaxofon spielte. An seiner Seite nahmen der Altsaxofonist José Soares und der Tenorsaxofonist Hugo Ciríaco Aufstellung, die im Laufe des Abends auch gesanglich zu überzeugen verstanden. „Schlusslicht“ in der Phalanx der Windinstrumente war Rui Teixeira am Baritonsaxofon. Dass Jazz Körperarbeit sein kann, aber auch einer gewissen theatralischen Dramaturgie unterliegt, unterstrich der Drummer Pedro Vasconcelos, der sichtlich auch Spaß an der Rhythmisierung des Geschehens hatte. Obendrein „zauberte“ er auch eine Vielzahl von Percussionsinstrumenten aus dem Hut. Shakers und eine Rassel schienen angesichts von einem Schlauch, den er in ein Blasinstrument verwandelte, konventionell. Stimmboxen aus Stofftieren setzte er ebenso ein wie ein „Küchengerät“. Er arbeitete teilweise ohne Felle und Bleche, indem er nur die Sticks rhythmisch aufeinander schlagen ließ. All dies war von großen Gesten begleitet, sprich auch ein visueller Hingucker. Im Schatten von Vasconcelos bewegte sich der zweite Drummer Alex Rodriguez-Lázaro, der uns hier und da Flötentöne nahe brachte und sich auch auf Vogelstimmen verstand. 

Zartes Sopran traf auf tiefgründiges Bariton, derweil im Hintergrund die Felle der Schlagwerke ins Schwirren gebracht wurden. An Effekten wurde auch nicht gegeizt, sodass man gelegentlich den Eindruck einer feinen Regenwand oder von niedergehenden Regentropfen haben konnte. Gleichsam in einer Art Vor- und Nachgesang erlebte man die beiden Altsaxofonisten. In deren Klangkondensat mischten sich dann auch noch Tenor- und Baritonsaxofonist ein. Das war absolut fern von irgendwelchen Klanganwandlungen, die sich an Big Bands anlehnte. Anmutungen von Free Jazz galt es wahrzunehmen, zugleich aber auch die sich ausbreitenden Klangströme des Altsaxofonisten  João Mortágua, der sich für seine Solos ähnlich wie der zweite Altsaxofonist aus dem Verbund löste und dann auch elektronische Effekte seinem Spiel beimischte.

Manchmal musste man bei der Musik an das Konzept einer Blaskapelle im besten Sinne denken. Das war nicht in Humpda-Humpda gefangen, sondern erinnerte eher an die Bandas auf Malta und die Kapellen  auf den Umzügen der Semana Santa oder an Marching Bands während des Mardi Gras.

Die Band präsentierte, so João Mortágua, erstmals außerhalb der Iberischen Halbinsel eine Musik, die in den letzten zwei Jahren entstanden war. CDs gebe es bis auf fünf keine mehr, aber digitales Herunterladen sei ja auch machbar. Man denke sich dabei ein Schmunzeln im Gesicht des Saxofonisten.

Was die Band eben auch auszeichnete, dass die jeweiligen Stücke in keinster Weise Klone waren, sondern immer wieder neue Ansätze präsentierten. Manchmal schien man dabei auch einem Streitgespräch zu folgen, das vom Sopransaxofon angezettelt wurde. In diesen Zwist mischten sich auch die beiden Drummer ein, schlaggewaltig, wie nicht anders zu erwarten. Überraschend waren die eher hohen Tonlagen, in denen der Baritonsaxofonist die Auseinandersetzung befeuerte. Zeitweilig vernahm man Brabbeln, Grollen, Murmeln, Keifen – auch dank des Einsatzes von Effekten und eines E-Drums.

„Entgleisungen“ kamen vor, wurden aber wieder in eine geschlossene Form überführt. Es gab kein Pfeifen im Wald, aber dennoch vernahm man es. Leise Töne waren eher die Seltenheit, aber sie gab es gelegentlich. Ansonsten muss man wohl von klanglichem Inferno sprechen. Ab und an hatte man auch den Eindruck, Fela Kuti würde vorbeischauen und Afro-Beats zum Klanggeschehen beitragen. Großes Kino boten die beiden Drummer. Sie schienen auch ohne Röhrentrommeln die japanische Trommelkunst Taiko zu beherrschen und darin völlig entfesselt aufzugehen


Dass nun ein Kontrastprogramm folgen sollte, kündigte Fritz Schmücker in seiner Zwischenansage an. Sie korrespondiert mit der Konzertankündigung des Festivals Inntöne: „Die Zusammenarbeit mit dem polnischen Pianisten und Komponisten Krzysztof Kobyliński basiert auf einer wunderschönen CD. Der polnische Pianolyriker verschmilzt in seinen Kompositionen tiefgehende osteuropäische Melodien, die dem französischem Trompetenstar auf den Leib geschrieben sind." Bei diesem in einer Scheune stattfindenden Festival hatte der künstlerische Leiter des Münsteraner Festivals das Duo auch gehört und war vom ersten Moment an von der kammermusikalischen Präsenz eingenommen.


KRZYSZTOF KOBYLINSKI & ERIK TRUFFAZ

Aufgemacht wurde das Konzert mit Solostücken des polnischen Pianisten Krzysztof Kobylinki. Das war unerwartet. Zudem stellt sich die Frage, wieso nicht Truffaz mit einigen Trompetensolos den Anfang machte. Der amerikanische Trompeter Randy Brecker äußerte sich über Kobylinski mit folgenden Worte: „Seine [Kobyliński] Musik ist lyrisch, fröhlich und bewegend. Seine Musik hat einen perfekten Sinn für Melodie mit schöner Harmonie. Jedes Stück ist unglaublich."

Nun ja, eine derartige Begeisterung setzt voraus, dass man lyrisches Spiel mag und vor allem, dass man Solokonzerte mag. Für den Berichterstatter ist dieser Ansatz des reinen Solos im Jazz gewiss zu debattieren, denn Jazz ist ja durch und durch interaktiv, auf Austausch gebaut, auf Phrase und Paraphrase ausgerichtet. Variationen kann man solistisch am Flügel spielen, aber Improvisationen?

Perlendes Tastenspiel erfüllte das Theater. Ein Hauch von Frühling schien die Anwesenden zu umfangen. Oder doch nicht? Vielleicht ist besser von vier Jahreszeiten zu reden, denn es gab auch umbrafarbene Herbsttöne im Lento zu hören. Klanglicher Platzregen ließ der polnische Pianist niedergehen, Hörte man da nicht auch das Klacken der Absätze von Flamencotänzern? Momente der Stille waren Teil des Klangflusses, der sich überwiegend in den hohen Registern bewegte.

Über der Basshand, die sich in einer Abwandlung des Take5-Modues bewegte, oszillierte die rechte Hand im Tastenspiel. Teilweise driftete das Spiel in den Soul ab, teils aber auch in romantische bzw. neoromantische Klaviermusik. In jedem Fall stand die Suche nach der Schönheit der Melodie im Vordergrund. Dabei geriet dann das Dramatische ins Hintertreffen ganz im Kontrast zu dem Vortrag von AXES.

Erik Truffaz schien seine Klangrinnsale auch ganz im Dienste des Lyrischen weich zu zeichnen. Seine Kompositionen waren melodisch-eingängig. Mit einem Fingerschnipsen animierte er das Publikum zum Mitschnipsen. Dabei blieb es nicht, denn auch Klatschen und Mitsummen war angesagt. Und das erfolgte für ein harmonisches Ganzes.

Neben lichten Pastelltönen vernahm man auch Schwermütiges, schien höfische Musik gegenwärtig und bisweilen auch das eine oder andere Zitat aus der Musikgeschichte. Es gab keine wirklichen „orgiastischen Klangstürme“ zu erleben, sondern eher Kontemplatives. Dabei überkam den einen oder anderen beim Zuhören ab und an der Eindruck, dass diese oder jene Passage schon einmal angestimmt wurde. Das mag am Duktus oder auch an den Harmonieschemen gelegen habe, die das Duo für den musikalischen Vortrag bevorzugte. Insgesamt schienen die Kompositionen sehr getaktet, sehr stark notiert zu sein, auch wenn Erik Truffaz hier und da überrascht von dem Ende eines Stücks war. Er schien also wohl doch eher dem freien Geist zu huldigen und nicht einem festgelegten „neo-romantischen Gesamtkonzept“.



Daniel Erdmann, so der künstlerische Leiter des Festivals, ist kein Unbekannter. Erinnert sei an seine Projekte Das Kapital und Velvet Revolution. Nun aber stehe er, so Fritz Schmücker, mit einem Quartett auf der Bühne, das aus dem Trio Velvet Revolution erwachsen sein. Und wieder erlebten die Anwesenden einen totalen Klangwechsel mit Anmutungen von Fusion und Jazz Rock.


DANIEL ERDMANN’S VELVET JUNGLE

Im Jazz Magazin schrieb Gerard Rouy über den Tenorsaxofonisten: „Daniel Erdmann etabliert sich auf der internationalen Bühne als einer der innovativsten Solisten. Er bringt
 in sein musikalisches Projekt eine gesunde Spannung und eine konzentrierte Energie ein, die einem breiten Publikum zugänglich ist, an den Grenzen von Freiheit, Funk und Lärm."

Erdmann zur Seite standen der Geiger Theo Ceccaldi, der es obendrein verstand, seine Viola wie eine Gitarre klingen zu lassen, der Vibrafonist Jim Hart und der Drummer Samuel Rohrer, dem es während des Konzerts auch gegönnt war, ein Solo zu spielen. Heutzutage ist dies eher eine Seltenheit, nicht nur bei genau getakteten Einspielungen auf einer CD, sondern auch im Livespiel!

Gleich zu Beginn stand ein Aha, denn der Vibrafonist agierte mit Kleiderbügeln, um seine Klangstäbe in Schwingungen zu bringen. Theo Ceccaldi überraschte den einen oder anderen Puristen im Publikum mit seinem Saitengezupfe zu gestrichenem Fell. Im Weiteren vereinten sich Ceccaldi und Rohrer zu einem rhythmischen Bündel, über das ein Klangschwall gelegt wurde. Vibrafonist und Saxofonist paarten sich im Dialog. Rabatz und Krawall war auch angesagt. Die klangliche Entführung ins musikalische Dickicht war zu erleben, auch wenn der Urwald nicht mit Afro-Grooves rief.

Daniel Erdmann stellte im Verlauf des Konzerts nicht nur seine Band vor, sondern auch die eine oder andere Komposition vor. Sonst hätten wir nie erfahren, dass „Give The Soul Some Rest“ auf dem Programm gestanden hat. Beinahe lyrisch-getragen kam diese Komposition daher, in der Saxofon und Violine die Klanghoheit besaßen. Klangliche Farbauffrischungen steuerte der Vibrafonist bei. Völlig losgelöst zeigte sich der Violinist, der Jean-Luc Ponty und Didier Lockwood beinahe vergessen ließ. Er verstand es Songhaftes mit Rockigem sowie Jazzigem zu verbinden. Teilweise hatte man auch den Eindruck, man erlebe Crossover, ohne exotische Instrumente wie Kalimba, Guembri, Saz, Oud oder Kora.

Neben „An jeder Kreuzung liegt eine Erinnerung begraben“ stellte das Quartett einen neuen Titel vor, der bisher lediglich mit „Numero Uno“ bezeichnet ist. Das Schwirren und Flirren des Saxofons traf auf eine Viola, die nach Gitarre klang. Bluesiges lag in der Luft. Knurrend, grummelnd, schreiend und klagend zeigte sich das Saxofon im Weiteren. Rockig trat Theo Ceccaldi auf, als er die Saiten der Viola bespielte. Phrase und Paraphrase lag in den Händen von Jim Hart und Daniel Erdmann. Das war Interaktion vom Feinsten.

Dass ein Vibrafon, wenn es denn auch noch präpariert ist, wie ein gestimmtes Ölfass einer Steel Drums Band klingen kann, konnten die Anwesenden auch noch erleben. Und am Ende ging es dann in den hohen Norden, spielte das 4tet doch eine Komposition, die von einem Film von Aki Kaurasmäki beeinflusst ist: „Kauas pilvet karkaavat“, dt. „Wolken ziehen vorüber“. Und da waren sie dann die klanglichen Nebelschwaden, die wabernden Wolken, der knirschende Schnee, aber keine Schwermut, keine finnische Depression. Kein Saunaaufguss und auch kein finnischer Tango.


Text und Fotos © ferdinand dupuis-panther – Text und Fotos sind nicht public commons!


Line-up

AXES


João Mortágua
– as, ss
José Soares – as
Hugo Ciríaco – ts
Rui Teixeira – bs
Pedro Vasconcelos – dr, perc
Alex Rodriguez-Lázaro – dr, perc



KRZYSZTOF KOBYLINSKI & ERIK TRUFFAZ


Krzysztof Kobyliński
– p
Erik Truffaz – tp



DANIEL ERDMANN’S VELVET JUNGLE


Daniel Erdmann
– ts
Theo Ceccaldi – viola, violin
Jim Hart – vibes
Samuel Rohrer – dr


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