Impressionen von den 27. Internationalen St. Wendeler Jazztage, 15./16.9.2017



Auf dem Plakat der diesjährigen Jazztage in der saarländischen Kreisstadt St. Wendel sind Kastanien zu sehen. Sie symbolisieren, so der Organisator der Veranstaltung Ernst Urmetzer, die Kontraste, die das Festival präsentiert: Innen ist die Kastanie ein Handschmeichler, rund und glatt, äußerlich ist sie stachlig und einem Igel gleich. Das stand auch für die Bands, die auf der Bühne des Saalbaus standen.

Ehrenamt ist gefragt

Werfen wir nun im Weiteren ein Spotlight auf ein Festival, das ohne die zahlreichen ehrenamtlichen Helfer und die Unterstützung der Stadt nicht möglich wäre. Etwa 30 Ehrenamtliche stemmten die Veranstaltung, die im Saalbau stattfand.

Am Freitag, den 15.09.2017 war es soweit: Die Türen des Saalbaus wurden geöffnet, und Jazzliebhaber von nah und fern strömten hinein, um Ketil Bjørnstad,  den Erzähler an den weißen und schwarzen Tasten, und nachfolgend einen „Vokalakrobaten“ aus der Schweiz, Andreas Schaerer, zu erleben. Dabei, das sei vorweggenommen, wurde einmal mehr im Verlauf der Konzerte deutlich, dass Jazz auch etwas mit Körperarbeit zu tun hat. Insbesondere Andreas Schaerer lebte gleichsam seine Stimme, nicht nur wenn er sich zur Human Beat Box verwandelte.



Poetisches am Flügel

Vorhang auf hieß es vor ausverkauftem Haus für den klassisch ausgebildeten Pianisten und Schriftsteller Ketil Bjørnstad, der zwischen seinen jeweiligen musikalischen Vorträgen stets das Gespräch mit dem Publikum suchte.  Angekündigt wurde Ketil Bjørnstad als einer der bedeutendsten Pianisten Norwegens. In der Ankündigung des Konzerts war des weiteren Folgendes zu lesen: „Verwurzelt in der Klassik und in der europäischen Konzertmusik, inspiriert vom Jazz besticht der Pianist durch sein melodiöses und gleichzeitig subtiles Spiel sowie durch sein facettenreiches Improvisationsvermögen.“


Eine musikalische Reise auf die Lofoten

Gleich zu Beginn führte uns der norwegische Pianist auf die Lofoten, aus dem Meer gewachsene Felseninseln, die  heute touristischer Anziehungspunkt sind. Seit Alters her sind die Lofoten für den Kabeljaufang mit Ruderbooten ebenso bekannt wie für Produktion von Trockenfisch. Das war und ist, so Ketil Bjørnstad, ein sehr abenteuerliches und gefährliches Unterfangen.

Wie gefährlich das Meer sich zeigen kann, unterstrich der Pianist gleich zu Beginn des Stücks. Er griff in den Flügel und riss die Saiten mit den Händen an, so als wolle er das brausende Meer mit riesigen Wellen klangvoll einfangen. Sturm schien sich anzusagen. Doch nach der klanglichen Dramatisierung zu Beginn schien das Meer zu verebben. Lyrisch-romantische Sequenzen wurden angestimmt. Dabei musste man als Zuhörer an Abschiedsschmerz und Wehmut denken. Man sah gleichsam die Wartenden an den Gestaden, die der Heimkehr der Fischer entgegenfieberten. Bange Fragen stellten sich. Ketil Bjørnstad wechselte im weiteren Verlauf seiner Komposition zwischen dramatischen und ruhigen Szenen hin und her, dabei auch eine sehr energetische Basshand einsetzend.


Dahingleitendes mit Ragtime und Blues

In ähnlichen Harmonien und Klanglinien kam auch „Floating“ daher, entstanden nach dem Tsunami in Südostasien und der Begegnung mit einer Überlebenden, die Mann und zwei Töchter verloren hatte, so der norwegische Pianist in seiner Ankündigung des Stücks. Wie man überleben könne, habe er gefragt und die Antwort erhalten: „Weiterleben! Lass dich treiben.“

Sehr perlend gestaltete Ketil Bjørnstad sein Tastenspiel, das eher an einen langsam rinnenden Bach, der zum Strom wird, erinnerte. Von den Harmonien her vernahm man Melancholie. Zugleich konnte man sich den Melodielinien, sie waren denen des vorherigen Stücks im Thema sehr ähnlich und vielfach auch vorhersagbar, hingeben, dahinschweben, dahingleiten – kein Wunder bei dem Titel des Stücks, oder?



Hier und da konnte der Zuhörer an herbstliche Stimmungen denken, an das Rascheln von gefallenem Laub unter den Füßen, von im Wind tanzenden verfärbten Blättern, von Winden, die die Laubkronen der Bäume durchstreifen. Fließend waren in der Folge die Konturen, die der Pianist vor unseren Augen und Ohren zeichnete. Das Gebot der Langsamkeit schien er dabei zu beschwören.

Beigaben von Ragtime und auch Blues gab es zu hören – überraschend angesichts des sonst eher lyrisch ausgerichteten Spiels. Dabei spielte der norwegische Pianist „verwischte Formen“, also keinen klassischen Ragtime oder gar die rollende Hand des Boogie Woogie.

Mit „Rememberance“ schaute der Tastenvirtuose aus dem europäischen Norden in seine Vergangenheit und präsentierte Teil einer Suite, die er mit dem Saxofonisten Tore Brunborg und dem Drummer Jon Christensen 2009 fürs Label ECM eingespielt hat.

Nach hartnäckigem Drängen durch das Publikum gab es zum Schluss eine sehr lyrisch ausgerichtete, wenn auch sehr kurze Zugabe. Nach der doch insgesamt eher „leichten Kost“ zu Beginn des Abends waren die Meisten im Saal dann auf Andreas Schaerer gespannt, der schon zum dritten Mal in St. Wendel zu Gast war. Man kannte sich also!




Auf die Stimme kam es an: Andreas Schaerer

Im zweiten Teil des Konzertabends galt es, Vokalakrobatik und Stimmeskapaden zu genießen. Ernst Urmetzer kündigte Andreas Schaerer mit den Worten an, er changiere zwischen Human Beat Box und Countertenor. Zugleich werde er geerdet durch die Grooves des Bassisten Wolfgang Zwiauer, der im Verlauf des Konzerts einen fünf- wie auch einen viersaitigen E-Bass unter seinen Fingern hatte. Hinzukomme ein hierzulande kaum bekanntes Saxofonquartett, das Arte Quartett. Man durfte nach den Worten von Ernst Urmetzer sehr gespannt auf das sein, was der Abend so bringen sollte. Überraschendes war gewiss!


Klangbreite und Sprachnuancen

Als Berichterstatter konnte ich Andreas Schaerer, wenn auch mit einer anderen Band als der, mit der er in St. Wendel zu hören war, beim Internationalen Jazzfestival Münster 2017 mit Musikern wie Luciano Biondini (Akkordeon), Kalle Kalima (Gitarre) und Lukas Niggli (Drums) erleben. Dabei war ich begeistert über die Klangbreite, die Klang- und Sprachnuancen, die Geräuschtiefen, die stimmliche Instrumentierung, mit denen Schaerer zu überzeugen verstand.

Andreas Schaerer, der im Übrigen auch mit Bands wie „Hildegard lernt fliegen“, mit dem Projekt „A Novel of Anomaly“ sowie im Trio mit Rom und Eberle unterwegs ist und von der Kritik hoch gelobt wurde, trat im Saalbau von St. Wendel mit dem Arte Quartett sowie dem Bassisten Wolfgang Zwiauer auf. Wirklich ungewöhnlich war dabei die Instrumentierung der Band: Sie bestand aus vier Saxophonisten, die von Tubax bis Sopranino die gesamte Bandbreite des Saxofons zu Gehör brachten. Hinzukamen ein Bassist und ein Klang- und Stimminstrumentalist, der Lautmalereien und Klangvielfalt auch in den höchsten Tönen darbot.

Im einzelnen waren folgende Musiker als Akteure auf der Bühne zu sehen und zu hören:  Andreas Schaerer  (Komposition, Vocals), Beat Hofstetter (Tenor-. Sopransaxofon), Sascha Armbruster (Mezzosopransaxofon, Altsaxophon), Andrea Formenti (Tenorsaxofon), Beat Kappeler (Baritonsaxophon, Tubax) sowie Wolfgang Zwiauer (E-Bass).


Quartett für ein Quartett und mehr

Gemeinsam stellten die Musiker ein Suite namens „Perpetuum Delirium“ vor, gleichsam einen fortdauernden Klangrausch, so der Wunsch und die Idee von Andreas Schaerer. Zu hören waren unter anderem „Großer Bruder von Q1“, „La Rencontre“, „Quartett I“, „Perpetuum Delirium“, „Zirzensisches Mittelstück“ und „Sampfampfe“.

Gleich zu Beginn eine grundlegende Anmerkung: Andreas Schaerer hat gewiss eine sehr dominante Bühnenpräsenz. Er legte auch physisch sichtbar alle Energie in seine Stimmarabesken, aber er trat auch zurück, vor allem bei dem Stück „Quartett I“, als das Arte Quartett alleine zu hören war. Dabei konnte er jedoch nicht gänzlich aus seiner Haut, saß zwar auf einem Hocker, doch mimisch ging er stets mit dem musikalischen Fluss mit, schien kurz davor zu sein, aufspringen und als Stimmperkussionist mitwirken zu wollen.


Durchgetaktetes bis ins Letzte gab es nicht

Im Ensemble gab es stets auch Passagen von Zwiegsprächen, zum Beispiel zwischen Baritonsaxofon und Stimme oder auch Bass und Stimme. Das verlieh dem Vortrag Abwechslung und Dynamik. Erwartungen wurden zudem so durchbrochen. Nie war vorhersehbar, was als Nächstes wohl folgen würde.

Auch wenn die Suite komponiert ist, schien die Musik nicht bis ins letzte Z durchgetaktet zu sein. Da schien es Lücken und Nischen zu geben, in die die einzelnen Musiker eintauchen konnten. Es gab Musik aus dem Moment heraus, auch wenn die Notenblätter auf den Ständer etwas anderes signalisierten.

Andreas Schaerer in seinem sprachlichen Ausdruck einzufangen, ist ein beinahe zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. Dennoch soll der Versuch unternommen werden, sich lautmalerisch dem Vortrag des schweizer Vokalisten zu nähern: Mit „Tschintschinwabä“ schien aufgemacht zu werden, als das Konzert begann. Dazu ertönte eine Saxofonfanfare und Klongklong. Diseusenhaftes mischte sich mit Beatbox-Perkussion. Derweil groovte der Bass gewaltig, ließ sich Andreas Schaerer auf ein Klanggespräch mit einem Tenorsaxofon ein. War es ein Sopransaxofon oder das Sopranino, das sich sehr konzertant gab, als das Stück „Großer Bruder von Q1“ seinen Fortgang nahm? Gewalte Klangkraft aller Saxofone gehörte auch zur Inszenierung. Ob sie denn zu einem Rauschzustand bei den Zuhörern führte, das bleibt mal dahingestellt.


Schiffssirenen oder urbaner DADA

Assoziationen an Schiffssirenen, mit denen im dichten Nebel vor einander gewarnt wird, meinte man bei „Artediem“ zu vernehmen. Zaghaftes Gehupe drängte sich in den Vordergrund, ehe es dann „Tubafraschbagado“ oder ähnlich hieß. Bisweilen hatte es den Eindruck, als würde Andreas Schaerer im Laufe des genannten Stücks auch auf Türkisch singen. Bis ins Sopran schraubte er dabei seine Stimme. Das klang nie gekünstelt-gewollt, sondern organisch-konzipiert.

Bass und Stimme gaben sich für Momente ein gemeinsames Stelldichein. Dabei signalisierte die Körpersprache von Andreas Schaerer, dass es auch eine rein physische Komponente des Gesangs gibt. Der Körper war unentwegt in Bewegung, vor- und zurückgehend, in die Knie gehend, den Oberkörper beugend, den Kopf neigend, die Hand als Schalltrichter nutzend.

Streckenweise musste man beim stimmlich-instrumentellen Vortrag an Kurt Schwitters DADA-Poesie denken. DADA entstand übrigens im Heimatland der Musiker, in der Schweiz, dank sei u. a. Hugo Ball.


Es groovte auch

Zu verfolgen war, dass sich das Ensemble in „Kleingruppen“ aufspaltete, Bass und Altsaxofon im Vordergrund standen, Alt- und Sopransaxofone sich den urbanen DADA teilten und zuspielten. Man hört Windrauschen, Atmungen, Zupfen und Klopfen auf dem Blättchen des Saxofonmundstücks und Geschnalze. Dazu gab es Anmutungen von Choralgesang, aber im nächsten Moment rüttelten dann Bassgrooves wach oder waren Dschungelklänge zu vernehmen. Beim „Quartett I“ des Quartetts verschmolzen m. E. typische Brassklänge mit Zirkusmusik und Kirchenlied, Free Jazz mit Kammermusikalischem.

Auch wenn Andreas Schaerer, so seine Ansage, das Musikalische für sich sprechen lassen wollte, steuerte er doch die eine oder andere Geschichte bei, unter anderem zum Stück „Zirzensisches Mittelstueck“: Nach einem Konzert sei ein Mann auf ihn zugekommen, der meinte, es sei ja ein sehr schönes Konzert gewesen, aber er wüsste doch gerne, wo er denn musikalisch gerade sei. Daraus ergab sich dann die Idee zum oben genannten Stück, das an diesem Abend gleich zweimal zu hören war, einmal basslos und einmal mit Bass am Ende des Konzerts.


Zu den Geschichten, die eben auch zur Musik gehören, zählt die Entstehung von „Sampfampfe“. Eigentlich ging es um eine Gute-Nacht-Geschichte, die die Tochter von Andreas Schaerer erzählt bekommen wollte. Wer eigentlich Sampfampfe ist, wusste Schaerer nicht aufzuhellen, da diese Figur der Fantasie seiner Tochter entsprang.

Verbunden war diese Gute-Nacht-Geschichte mit einem Soloauftritt des Tubax-Spielers – es handelt sich bei Tubax  um ein neu entwickeltes Kontrabass-Saxofon in Es, eine Oktave tiefer als ein Baritonsaxophon. Dann mischte sich der E-Bassist ins musikalische Geschehen ein und ließ seine Fingerflächen über die Saiten streichen. Beinahe übergangslos erschallte im Nachgang eine Art Balkanova. Dabei kam dann das Mezzosopransaxofon zur Geltung, und man meinte. man sei „Ohrenzeuge“ einer ausgelassenen Dorfhochzeit in einem kleinen Dorf im Balkangebirge. Rhythmisch intervenierte Andreas Schaerer obendrein.

Es war ein sehr gelungenes Konzert, das das Publikum zu stürmischem Beifall veranlasste. Doch mit einer Zugabe war dann auch Schluss.



Ein Urgestein des europäischen Jazz

Es sei abschließend darauf hingewiesen, dass das Festival noch bis Sonntag andauerte und am Samstag, den 16.09.2017 dann mit Jasper van‘t Hof (u. a. Pili Pili, Pork Pie) ein Urgestein des europäischen Jazz, vor allem des Fusion Jazz, auf der Bühne des Saalbaus stand. Van‘t Hof zur Seite stand der Saxofonist Tony Lakatos, seit zwölf Jahren festes Mitglied der Big Band des Hessischen Rundfunks. In der Vorankündigung des Konzerts war zu lesen: „Im Duo mit Lakatos ist er das Kraftzentrum und unermüdlicher sowie feinfühlender Pulsgeber für die Improvisationen und Tony Lakatos punktet mit glanzvollem Ton, in feinsten Schattierungen von hell und klar bis warm und dunkel.“


Zum Abschluss dieser herbstlichen Jazztage, das muss besonders hervorgehoben werden, gab es am Sonntag dann ein Programm speziell für Kinder.  Schließlich klang mit dem Motto „Swing and Groove“ und der Big Band Urknall das Festival aus.  Auf das 28. darf man sicher gespannt sein. Ernst Urmetzer wird in der Auswahl der Musik wohl wieder für Gegensätzliches sorge, oder?

Text und Fotos: © ferdinand dupuis-panther

Informationen

Ketil Bjørnstad
http://www.ketilbjornstad.com/


Andreas Schaerer
http://andreasschaerer.com/projects/perpetual-delirium/


Arte Quartett
http://www.arte-quartett.com/

Wolfgang Zwiauer
http://www.wolfgangzwiauer.com/

CD and concert reviews
http://www.jazzhalo.be/reviews/cdlp-reviews/a/andreas-schaerer-arte-quartett-wolfgang-zwiauer-perpetual-delirium/
http://www.jazzhalo.be/reviews/cdlp-reviews/r/romschaerereberle-at-the-age-of-six-i-wanted-to-be-a-cook/
http://www.jazzhalo.be/reviews/concert-reviews/26-international-jazzfestival-muenster-2017-eine-persoenliche-rueckschau/


Jasper van‘t Hof und Tony Lakatos
http://www.jaspervanthof.com
http://www.tonylakatos.com

CD reviews
http://www.jazzhalo.be/reviews/cdlp-reviews/j/jasper-vant-hof-on-the-move-live-at-theater-guetersloh/
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