Duo Riessler/Charial – 200 g, die man hören konnte

Erlesen war der Kreis derer, die in der Münsteraner Schwarzen Kiste dem Duo Michael Riessler (Bassklarinette/Sopransaxofon) und Pierre Charial (Drehorgel) lauschen wollte. Die, die das taten, bereuten es gewiss nicht, denn zwei Musiker von Rang präsentierten in einem 70-minütigen Konzert eine Bandbreite an Klangfülle, die man lange nicht mehr in der Schwarzen Kiste gehört hatte.

Pierre Charial ist in gewisser Weise der Arrangeur der Kompositionen, die Michael Riesslers Feder entstammen. Seine dank Lochkartensystem betriebene Drehorgel legt fest, was er spielen kann. Nur die Geschwindigkeit der Kurbel, die Charial betätigt und das Durchschieben der gestanzten Pappen lassen Abweichungen zum Grundkonzept des Arrangements zu. Was zu hören war je Stapel Lochkartenpappen, waren lediglich 200 g von 500 g Pappengewicht. 200 g fallen stets weg, wenn die Karten durch eine Stanze laufen - eine durchaus merkwürdige Vorstellung angesichts einer fast berauschenden Klangfülle, die die Black Box an diesem Abend erfüllte.

 

Vorab: die Künstler des Abends

Der Bassklarinettist Michael Riessler, geboren 1957 in Ulm, bezeichnet sich selbst nicht als ein Grenzgänger zwischen Improvisation und zeitgenössischer Klassik, zwischen Sprache und Klang, Musik und Tanz. Das tun eher andere. Riessler hat mit Musikern und Komponisten unterschiedlichsten Musikgenres zusammengearbeitet: u. a. Maurizio Kagel, John Cage, Steve Reich, Helmut Lachenmann, Arditti Quartett, Ensemble Modern, David Byrne, Michel Portal, Carla Bley und Terry Bozzio (Ex-Schlagzeuger von Frank Zappa). Zuletzt realisierte er zusammen mit Pierre Charial sein Projekt „Big Circle“, für das er 2012 mit dem Jahrespreis der Deutschen Schallplatten-Kritik und dem Kulturstern der Münchner AZ ausgezeichnet wurde.

Pierre Charial, von einem Kritiker einmal als Frankreichs größtes musikalisches Geheimnis gewürdigt, scheint ein Tausendsassa in Fragen der Arrangements, ob er nur Mozart oder Haydn neu interpretiert oder aber zeitgenössische Musik von György Ligeti oder Pierre Boulez einspielt. Zuletzt veröffentlichte er gemeinsam mit Michael Riessler und dessen Klassikkollegin Sabine Meyer die CD „Paris Mécanique“ mit Musik aus dem Paris der 1920er Jahre.

 

42 Tasten und 114 Pfeifen

Ein Vorhang hob sich nicht, denn die Black Box besitzt keinen, aber dennoch hieß es im übertragenen Sinne: „Vorhang auf“. Zuerst einmal fiel der Blick auf das Musikinstrument, das Pierre Charial in die Black Box geschafft hatte: eine lochkartengesteuerte Drehorgel des Pariser Drehorgelbauers André Odin mit 42 Tasten 114 Pfeifen und 3 Registern, ein wahrlich mächtiges Instrument, das auf einem Handkarren stand. In mehreren Kästen waren die Lochkarten gestapelt.

Nein, Charial spielte keinen traditionellen Leierkasten, wie ihn der eine oder andere kennt, sondern eine Orgel, die eben auch wie eine große Kirchenorgel klingen kann, aber nicht klingen muss. An Charials Seite stand der Komponist und Bassklarinettist Michael Riessler. Ihm oblag an der Klarinette und am Saxofon nicht nur die Suche nach der Melodie, sondern auch die Improvisation, der Charial nur durch Tempowechsel nachging.

Vor dem Konzert traf ich Michael Riessler zum Interview. Dabei betonte der nun in München beheimatete Klarinettist, dass er keine Ansagen machen wolle, um die Zuhörer nicht zu sehr in eine Richtung zu lenken. Ihm seien verschiedene Assoziationen zur Musik lieber, als dass sich Zuhörer durch den Titel einer Kompositionen oder Ausführungen in eine Richtung lenken lassen. Nun gut, das ist ein vertretbares Konzept, auch wenn der Berichterstatter dies nicht unbedingt teilt. Verbale Kommunikation scheint m. E. hier und da angezeigt, weil es neben dem Höreindruck einfach Brücken zur Musik bauen kann.

 

Ein zwitscherndes Vögelchen im schwarzen Kasten

Zu Beginn des Konzerts zwitscherte, trällerte, piepte und tschilpte ein Vögelchen in einem Käfig. So stand dann für eine Weile ein mechanisches Musikinstrument im Mittelpunkt des Interesse, ehe Michael Riessler und Pierre Charial ihre jeweilige Drehorgel in Schwung brachten. Dabei konnte man den Eindruck gewinnen, dass Musette und französisches Chanson sich ihren Platz eroberten. Zumindest klang die von Michael Riessler bediente Drehorgel ein wenig nach Akkordeon, und man fühlte sich an die Seine oder nach Montmartre entführt. Zugleich aber meinte man, dass die kleine Drehorgel von Michael Riessler auch ein wenig in den Harmonien und Tonumfängen einem Harmonium gleiche. Eher an klassischer Komposition schien das Spiel von Pierre Charial orientiert. Dabei konnte man meinen, Charial falle es zu, für die Basslinien zusorgen.

Tieftöniges paarte sich mit Hochtönigem. Bisweilen hörte man Signallaute. Spitze, schrille Passagen konnte man wahrnehmen und dabei an „Alarm, Alarm“ denken. Aber was passierte nun? Waren da nicht stolpernde Tonfolgen vernehmbar? Klang das nicht nach Flucht, nach dem Geräusch von schnellen Sohlen auf Kopfsteinpflaster? Noch ein Triller und ein lang gezogener Orgelton – dann war es an Michael Riessler auf seiner Bassklarinette den Tonreigen weiterzutanzen.

Was hörten wir? Klage, Anklage, Aufschrei vielleicht? Zugleich ließ sich die Assoziation an Fluchtbewegung nicht völlig wegdenken. Mitgenommen vom Klang der Klarinette und der Drehorgel schien man zu meinen, hier werde man außerdem Zeuge einer neuen Filmmusik für die „Sinfonie der Großstadt“, einem experimentellen Film der 1920er Jahre. Zumindest beschlich den Zuhörer der Eindruck, er lausche Geschwätz und Getratsche. Dabei hatte man bei dem ersten Stück nie den Eindruck, die Improvisationen würden ausufern oder das Thema würde versteckt daherkommen. Uferloses freies Spiel stand nicht zur Debatte.

Beim nächsten Stück mischten sich flötenartige, ruhige Passagen mit einer Art Maschinengeräusch, sodass die Vorstellung von „Modern Times“ sich aufdrängte, sprich man musste u. U. wiederum an eine mögliche Filmmusik denken. War da nicht das Geräusch eines schnell rollenden Fließbands im Raum? Dazu gesellte sich etwas Liedhaftes, Frisches und Frühlingshaftes. Ein Bruch, oder? Für einen sehr kurzen Augenblick wurde außerdem höfische Musik zum Besten gegeben.

Diesen Gedanken konnte man aber schnell verdrängen, da es im musikalischen Weltentheater ungezügelt weiterging. Wie heftig prasselnder Regen klang es. Dabei waren es die Klappen der Klarinette, mit denen Michael Riessler für ein derartiges Hörbild sorgte. Pferdegetrappel könnte dem einen oder anderen beim Zuhören auch in den Sinn gekommen sein. Nicht nur die Klappen wurden deutlich hörbar bewegt, sondern das tieftönige Atemrohr bekam auch ein paar „Maulschellen“, sodass Unerwartetes ans Ohr der Zuhörer drang.

Über die Sequenzen der Klarinette setzte Charial seine ausgefeilten Klangpassagen, die hier und da einem Spiel auf dem Rhodes glichen. Es wurde im weiteren Verlauf rockig und auch poppig, vielleicht zwischen „Tubular Bells“ und Alan Parsons Projekt anzusiedeln.

Beim dritten Stück des Abends wurde durch Charials Spiel überaus bewusst, dass es stille Momente im Duospiel gab und geben muss, nicht ganz stille, aber stillere Momente. Das war dann der Fall, wenn die Drehorgel schwieg oder sich klanglich zurückzog. Dadurch gab es für Michael Riessler noch mehr Freiheit der Entfaltung. Mal hörte Im Verlauf des Stücks ein Kettenkarussell sich drehen, wenn die Töne nur so purzelten und die Pappe niederfiel. Ostinates traf außerdem auf Verspieltes, Beharrendes auf Widersprechendes.

Während des gesamten Abends drängten sich dem Berichterstatter ab und an Filmstills auf, auch beim nun folgenden Stück, das eine wilde Verfolgungsjagd mit Gene Hackman („French Connection – Brennpunkt Brooklyn“) glich. Aber nein, was passierte nun? Ratterte da langsam ein Zug vorbei, schwer schnaufend den Anstieg empor? Für einen Wimpernschlag schien sich wieder Rockmusik im Raum auszubreiten. Stets wartete man darauf, dass Michael Riesslers Atemfluss seinen Holzbläser in ein Didgeridoo verwandelt. Dies erfüllte sich jedoch nicht. Auch bei diesem Stück konnte man nicht von einer Nähe zu Frank Zappa sprechen, auch wenn einige Kritiker das so sehen. Eher gab es da wohl fragmentarische Anleihen an südamerikanische Rhythmen, aber nicht an Tango.

Dass der Berichterstatter beim weiteren Zuhören nachfolgender Kompositionen auch sehr kurze Harmoniepassage aus dem Säbeltanz von Aram Chatschaturjan zu hören glaubte, mag ein Hörfehler gewesen sein. Was aber für alle Kompositionen zutraf, waren die schillernden Klangfarben, die auch Neonfarben, sprich Pop und Rock, nicht aussparten. Zum Schluss standen dann noch einmal die mechanischen Piepmätze im Fokus, derweil zwei Orgeln ihren Klangteppich in der schwarzen Kiste ausbreiteten. Der Beifall war spontan und lang andauernd. Ein sehr gelungener Konzertabend war zu Ende. Man hätte durchaus noch mehr hören wollen, oder?

Text und Photos: © ferdinand dupuis-panther, 21.01.2016

Informationen

cuba Black Box
http://www.blackbox-muenster.de

Musiker
Riessler/Charial
https://de-de.facebook.com/events/676695589106845/permalink/676699762439761/

Michael Riessler
http://www.michael-riessler.de/

Videos
https://www.youtube.com/watch?v=_57zBYVbemI
https://www.youtube.com/watch?v=6J0MNxmJ24U

Pierre Charial
Videos
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