24. Emsdettener Jazztage 2023 des emskult e.V.

Emsdetten 23. bis 25. Februar 2023






Ja, 2024 wird ein Jubiläumsjahr, dann jähren sich die Jazztage zum fünfundzwanzigsten Mal. Zur Eröffnung der diesjährigen Jazztage hörten wir Kompositionen, die die Gitarristin Susan Weinert vor ihrem Tod noch schreiben konnte. Ihr Partner, der Bassist Martin Weinert, stellte diese Kompositionen gleichsam als Hommage an Susan Weinert nunmehr in einer Quartettbesetzung vor. Dass die einen oder anderen bewegten Worte in Erinnerung an Susan Weinert fielen, sei an dieser Stelle angemerkt. Das Album „Nordwind“, das das musikalische Vermächtnis der Gitarristin enthält, lag leider zum Konzert nicht vor.


So hieß es am 23. Februar 2023 Bühne frei für die Martin Weinert Rainbow Experience. Im Wochenspiegel vom 11.10.2022 lasen wir noch Folgendes: „Fast 40 Jahre lang musizierte Martin an der Seite seiner Ehefrau, der Gitarristin und Komponistin Susan Weinert. In über 3000 gemeinsamen Konzerten auf der ganzen Welt und 14 veröffentlichten Tonträgern, entstand dabei ein gemeinsames künstlerisches Lebenswerk und ein durch ihre kreative kompositorische Arbeit maßgeblich von Susan Weinert geprägter Klangkosmos. Nach Susans Tod im Frühjahr 2020 folgt Martin dem inneren Impuls dieses gemeinsame künstlerische Lebenswerk weiterzuführen, um Susans Musik weiterhin mit den Menschen in Livekonzerten und auf Tonträger-Veröffentlichungen zu teilen. Ganz bewusst verzichtet er dabei auf die Gitarre, da der Klang dieses Instrumentes für ihn untrennbar mit seiner Frau verbunden ist.“



Dass Kompositionen wie „Früh Morgens“, „Sommerwende“, „Provence“ und „Chinatown“ zu hören waren, erfuhren die sehr zahlreichen Zuhörer nicht. Nur wer Susan Weinerts Kompositionen internalisiert hatte, wusste also Bescheid. Alle anderen hatten sich auf die Musik einzulassen, auch auf das Unerwartete, den Spielwitz des Pianisten, der eher marginalen Rolle der Violinistin, den fulminanten „Schlagzeugexzessen“ mit und ohne Schlägel, einschließlich eines Solos mit drei Paukenschlägen, im wahrsten Sinne Paukenschlag ohne Kesselpauken. Auch dass nach der Pause die Anwesenheit an einem musikalischen „Augenblick“ und „November“ teil hatten, behielt Martin Weinert für sich. Nur die Band stellte er namentlich am Ende des 1.Sets vor und schloss das Konzert mit bewegenden Worten. Doch das war nicht das Ende des Konzertabends, denn der nachhaltige warme Beifall führte dann schließlich noch zu einer Zugabe.


Doch nun alles auf Anfang: Zu Beginn konnten die Anwesenden sehr ausgereifte Klavierklänge erleben. Teilweise meinte man, einem non-verbalen Chanson zu folgen, zumindest aber klanglichen Wasserspielen. Sehr lyrisch war das ausgelegt, was der Pianist Sebastian Voltz vortrug. Diskantes wurde präsentiert, ohne allzu sehr in kristalline Klänge auszuschweifen. Nicht nur im ersten Stück, sondern auch während des Konzerts, war die Basshand wenig zu vernehmen. Gelegentlich überkam den Zuhörer die Vorstellung, ein Lullaby verschmelze mit Nocturnes. Nach und nach stiegen dann die übrigen Musiker ins Geschehen ein, war Martin Weinert am Bass zu erleben, drang dünner Saitenklang der Violine ans Ohr des Zuhörers. Übrigens war die französische Geigerin Héloise Lefebvre die einzige Musikerin, die Notenblätter auf dem Pult vor sich zu liegen hatte. Bereits bei den ersten zaghaften Bogenstrichen auf der Geige konnte man den Eindruck gewinnen, dass spontane Interaktionen nicht die Stärke der Violinistin sind. Auch die non-verbale Kommunikation von Seiten des Pianisten blieb weitgehend ohne Antwort. Man hatte dabei den Eindruck, Sebastian Voltz versuchte seine Mitmusikerin, zu mehr Spontanität und wilden Improvisationen zu animieren. Doch das war vergeblich. Eng schien das musikalische Korsett, in das sich die Geigerin eingeschnürt hatte.


Die Basslinien, denen wir folgten, waren durchaus jenseits der sonst üblichen Schwere, die ein Tieftöner an den Tag legt. Nein, durchaus fein gewebte und transparente Tonsilben verband Martin Weinert in seinem Spiel. Weich gezeichnet waren teilweise die melodischen Linien der Geigerin, die damit an die Klaviersequenzen des Pianisten anknüpfte.


Wie schwere auf uns niedergehende Regentropfen klang im zweiten Stück des Abends das, was der Bassist seinem Tieftöner entlockte. Im Verlauf hörten wir kurz gezupfte Saiten, deren Klang an Oud oder Guembri denken ließ. Doch die Farbnuancen, die der Bassist bevorzugt vorstellte, waren in Umbra und Siena gehalten. Dezent war das Besenspiel des Schlagzeugers Daniel Weber. Der zeigte allerdings im Verlauf des Konzerts, dass er ein Derwisch zwischen Blechen, Toms, Snare und Gongs ist. In Melancholie schien die Geigerin derweil zu versinken. Und die Basslinien kamen sehr nahe dem Duktus von Lars Danielsson und seinen Einspielungen namens „Liberetto“. Im Verlauf setzte der Pianist sein distinktes und pointiertes Tastenspiel fort. Er schien die Fäden in der Hand zu halten, den Fluss des Stücks zu bestimmen, auch durch aufflackernde energische Tastensetzungen. Es schien, dass er „Pflöcke“ einzog, zwischen denen er die musikalischen Fäden spann.


Weiter ging es, dabei den Spielfluss freier gestaltend und durchaus die Komfortzone des Gebundenen verlassend. Hände griffen ins Innere des Flügels. Der gestrichene Bass schien auf dem Weg, ein Requiem, zumindest ein Lamento erklingen zu lassen. Schnelle Bogenstriche brachten die Geige zu flirren. Beckenränder wurden mit einem Bogen gestrichen. Das Spiel schien sich  mehr und mehr als freie Improvisation zu entwickeln. Gläserne Dominoketten schienen zu fallen. Wehklagend strich dazu der Bogen lang über die Basssaiten. Im Klang bildete die Geige den Antipoden zum Bass, allerdings mit sehr wenig Volumen. Man hatte den Eindruck, die Geigerin bediente eher das Feld der klassischen Musik der Moderne und nicht Impro oder Jazz, insbesondere auch im Duett mit dem Tieftöner. Theaterdonner erfüllte den Raum, wellige Tastenlinien obendrein. Schließlich vernahm man auch kreischende Bleche, die nachhaltig den Raum füllten.


Die nächsten drei Stücke wurde zur einer Art Suite gebunden. Endlich konnte man auch aufgehellten Klangnuancen lauschen. Dabei musste man an Lind- und Frühlingsgrün und Himmelblau sowie Klatschmohnrot denken. Mediterranes überzog den Bürgersaal, auch dank des „tänzerischen Pianospiels“. Bongo oder Tabla – das war die Frage, blickte man auf den Drummer, der sich hier und da durchaus in den Fokus trommelte. Von den Melodielinien wurde man auch an Folklore erinnert, ohne diese genau verorten zu können.

Nachfolgend wurde das Stück mit dem hell klingenden Glöckchen vorgetragen. Im Modus eines Sekundenschlags agierte der Bassist. Die Violinistin kreiste im Kern in ihrem eigenen Orbit. Es schien so zu sein: hier das Klaviertrio und dort eine Solistin mit Streichinstrument.


Ein besonderer Hinhörer waren die perkussiven Interaktionen zwischen Bassisten und Drummer. Da strich schon mal ein Schlägel auf die Korpusseiten des Basses. Zudem tippten Martin Weinerts Finger auf den Korpus. Dazu ließ der Drummer sein Schlagwerkzeug über Trommeln und Bleche tanzen. Ach ja, auch die Schnecke des Basses wurde mit einem Schlägel traktiert.

Zum Schluss des Sets meinte man gar, es groovt, und auch der Funk war mit im Spiel. Spielte da der Pianist nicht zeitweilig im Geiste von Oscar Peterson? Ja, und dann gab es eine kurze Pause.

Nach der Pause schien uns das Quartett in die Sphären nordischer Musik zu entführen, schienen von den Stimmungen her Grieg und Sibelius in Emsdetten im Geiste gegenwärtig. Novemberschwere schien auf uns zu liegen. Nebelig-grau färbten Bass und Geige ihre Sequenzen. Dabei verdrängten sie das „Heitere“, das der Pianist angestimmt hatte. Dieser ließ sich im Verlauf nicht beirren und inszenierte einen lauen Frühlingswind, ließ uns an eine Kajakfahrt in Wildwasser denken, an rauschende Gebirgsbäche, an einen kristallklaren See  begrenzt von Felsklippen.


Der Solovortrag der Geigerin mutete an wie orientalische Kunstmusik. Nachfolgend erlebten wir dann ein Pianosolo. Dabei sah man dann auch ein Überkreuzspiel. Die Basshand war nur wenig aktiv. Die Art des Spiels erinnerte an das Bild von verwehenden Dünen, die Sandkorn um Sandkorn abgetragen werden.

Nachhaltig im Gedächtnis blieben aus dem zweiten Konzertteil die niedersausenden Paukenschläge des Drummers. Tanzende Schlägel zwischen Toms und Snare führten zu spontanen Trommeleruptionen. Theaterdonner wurde zelebriert und man meinte, der Drummer trommele sich in Trance. Furios, überwältigend, nachwirkend. Zu diesem Eindruck hätte nicht unbedingt eine Zugabe angefügt werden müssen, aber sie gab es.



Ein neuer Tag und ganz andere Musik?
24. Februar 2023: Jonas Timm MORBU


MORBU
ist ein musikalisches Projekt, an dem folgende Musiker beteiligt sind: Jonas Timm (p), Tino Derado (acc), Bertram Burkert (g), Lorenz Heigenhuber (kb) und Diego Piñera (dr). Doch der angekündigte Gitarrist stand nicht auf der Bühne. Statt eines Gitarristen präsentierte uns Jonas Timm einen Posaunisten, nämlich Johannes Lauer. Um es vorwegzunehmen, er wie auch der Bassist Lorenz Heigenhuber wussten durch ihr pointiertes Spiel besonders zu überzeugen. Auf der Homepage heißt es zu Jonas Timms Projekt: „Was ist, wenn ein Gefühl, welches in einer anderen Sprache mit einem einfachen Wort beschrieben (werden) kann, plötzlich unzählige Sätze erfordert, um eine Umschreibung zu liefern? Die Möglichkeit dies mit Harmonien, Melodien und Rhythmen zu tun, versuchen die fünf Musiker von Morbu voll auszuschöpfen. In ihren Herkünften verteilt, aber ihren musikalischen Destinationen vereint, reisen sie musikalisch durch den Kosmos des Jazz und machen hier und da Ausflüge in europäische und südamerikanische Musiktraditionen,  um am Ende einen eigenen Weg der Übersetzung gegangen zu sein.“ Übrigens, Jonas Timm ist bei JazzThing in der Reihe „Next Generation“ vertreten.


Die obigen Ausführungen zur Musik des Quintetts sind „blumig-gestelzte“ Worte, die aber nicht das abbilden, was in der Konzertwirklichkeit in Emsdetten zu erleben war. Südamerikanisch beeinflusste Musik, also Latin Fever zwischen Samba, Rumba und Salsa, kam nur beim Schlussstück auf. Zudem steuerte der Drummer Diego Piñera einen uruguayischen Tanz bei: „Candombe pa'l Jonas“. Inspirierend und feurig waren diese beiden Stücke. Das mag auch der Grund für die Anwesenden gewesen sein, nicht vom tosenden Schlussbeifall und Zugabe-Rufen abzusehen. Nun gut, lassen wir aber mal das Konzert von A bis Z Revue passieren. Zu hören waren all die Stücke, die auch auf dem Debütalbum der Band zu hören sind, ob „The Toys of Germany“, „Technoprayer“, „Sei willlkommen“, „Little Asia“ und schließlich „La Vida con Alma“.


Mit dem „Wolkenmann“ fand das Ensemble ihren musikalischen Einstieg an diesem Abend. Viel Getrommel und Schlagwerkrauschen war zunächst zu vernehmen, ehe man in den Tastenfluss des Pianisten Jonas Timm eintauchen konnte. Kreisende Klangbilder malte der Pianist im Fortgang des Stücks. Ein wenig Musette steuerte der Akkordeonist bei, der allerdings nicht beid-, sondern einhändig spielte, sodass dem Zuginstrument der voll durchdringende Klang fehlte. Mehr und mehr drängte sich Diego Piñera mit seiner „Trommelfestung“ auf, ließ den Bassisten in den klanglichen Hintergrund entschwinden. Übrigens, wieso bedarf es eigentlich zweier Hi-Hat?


Dunkle Klangfärbungen steuerte der Posaunist bei, der zuvor noch nie in dem Ensemble gespielt hatte. Die dunkle Klangfärbung ließ dann angesichts des Titels auch an ein dunkles Wolkenmeer und an entsprechende Malerei von Caspar David Friedrich denken, wenn auch die Musik nichts, aber auch gar nichts mit romantischer Musik zu tun hatte.

Inspiriert habe ihn, Jonas Timm, zu diesem Stück der ostdeutsche Liedermacher Gerhard Schöne, dem dieses Eröffnungsstück auch gewidmet war. Im Weiteren erfuhren die Anwesenden, dass Jonas Timm das hektische Berlin unterdessen gegen Leipzig eingetauscht habe. Doch auch hier präge der urbane Dschungel mit der Alltagshektik das Leben. Eigentlich könne sich Timm, so der O-Ton, aber eher eine  noch kleinere Stadt als Lebensort vorstellen. Was das nun unmittelbar mit dem nächsten Stück namens „The Toys of Germany“ zu tun hat, erschloss sich dem Berichterstatter nicht.


Gedämpfter Posaunenklang drang an die Ohren der Zuhörer. Hart fuhren die Besen in den Händen des Drummers über die Felle und Blecken. Kristalline Tastenketten knüpfte derweil der Pianist, und der Akkordeonist schien in die Welt des Chansons einzutauchen. Nun war auch der Bass mit seinen Ausformungen mal keine marginale Größe, sondern ergänzte den Posaunen-Klang. Als ginge es bei dem Stück um Szenerien in Aquarell, so hörte sich an, was Jonas Timm seinem Tastenmöbel entlockte. Beschwor der Akkordeonist im Folgenden Fernweh und Sehnsüchte? Wohlklang verbreitete der Posaunist und ließ für Momente den aufdringlichen Schlagzeuger vergessen.


Würde man bei einem Titel wie „Technoprayer“ nicht entsprechende redundante Beats erwarten begleitet von entsprechender Instrumentierung von Bass und Piano?  Ja, stark rhythmisch durchwirkt war das Stück, aber weit entfernt von Techno-Anleihen wie wir sie von dem Trio namens LBT her kennen. Der Posaunist verstieg sich nicht darauf, eine Fülle von Klangrausch an den Tag zu legen, sondern dämpfte sein „klangerdiges“ Blasinstrument. Ab und an vernahm man ein Wow-Wow bzw. Wau-Wau, kehlig-dunkel und nur als Moment-Beitrag auftretend.

Der Drummer schien unentwegt damit befasst, ein Voran-Voran zu fördern. Darin fand er kein Gefolge, lauschte man beispielsweise dem Pianisten, der sich perlendem Tastenstrudel verschrieb. Im Anschluss daran spielte die Band eine Komposition des Akkordeonisten, der eigentlich Pianist ist und als solcher auch Hochschullehrer. Überbordendes Perkussives traf dabei auf ein mediterranes Ambiente. Zum Schluss des ersten Sets wurde „Der kleine Prinz“ vorgetragen, ein Stück, das dem Gitarristen der Band gewidmet ist. Warum das so ist, erfuhr man allerdings nicht.


Der zweite Teil des Konzerts begann mit einer Art Dankesrede für die Einladung und speziell an Ralph Jenders vom emskult e.V., der die Band im Vorwege des Festivals kontaktierte und dazu einlud. Das, so Jonas Timm, sei ja eher die Ausnahme. Meist kümmerten sich die Bands selbst um die Auftritte.

Das katalanische Weihnachtslied – so jedenfalls verstand der Berichterstatter Timms Worte – stand am Beginn des zweiten Konzertteils. Eigentlich sei es ja die heimliche Nationalhymne der Katalanen, die nach Unabhängigkeit von Spanien streben, so verriet es der Pianist. Mit uns bekannten Weihnachtsliedern hatte das Stück nichts gemein, eher mit Tiefe und Gefühlsüberfluss.  Ähnlich wie Smetanas „Moldau“ kam das Stück elegisch-episch daher. Im Fortgang jedoch gewann der Drummer an seiner „Schießbude“ die Überhand. Man meinte gar, dass er Kanonendonner und Gewehrsalven imitierte und damit die Klangfärbungen der Mitspieler überdeckte. Signalisierte Diego Piñera also die Geburt eines neuen Staates in Europa?

 


In „Sei willkommen“ war der Drummer weniger aufdringlich und die Zuhörer konnten Basswohlklang genießen. Auch ein samten-weicher Klang der Posaune wurde nicht von wilden Schlagkaskaden überdeckt. Wie bereits oben angedeutet, stand danach ein uruguayischer Tanz auf dem Programm: „Candombe pa'l Jonas“. Hätte Jonas Timm oder der Komponist Diego Pinera nicht Worte als Einführung in den traditionellen Tanz aus Uruguay finden können? Das unterblieb. Was aber blieb in den Zwischentexten war ein stetes „Genau“ in jedem formulierten Satz von Jonas Timm. Warum?

Tänzerische Bewegungen waren schwerlich in der Musik auszumachen. Vielleicht hatte man am ehesten beim Akkordeon-Solo den Eindruck, hier würden sich Tanzende bewegen. Wie auch in anderen Stücken wurde die Feinheit von melodischen Linien durch das „Hau-drauf-Prinzip“, das der Drummer pflegte, im Keim erstickt. Schade!


Den Schlussakkord bildete dann ein Stück, das Latin Fever aufkommen ließ, eine Mischung aus Salsa und Samba präsentierte, oder? Dennoch hinterließ der Konzertabend einen eher schalen Beigeschmack. Ankündigung und Wirklichkeit klafften auseinander. Vorrangig dezenteres Drumming hätte dem Ensemblevortrag in Gänze gut getan! Auf dem Debütalbum kommt der Drummer weniger wuchtig als im Emsdettener Konzert daher. Was sagt uns das?



Das Finale: 25. Februar 2023:
Stephan-Max Wirth Experience


Nachfolgendes liest man auf der Homepage des Saxofonisten: „Seit mehr als einem Vierteljahrhundert ist der Berliner Saxophonist und Komponist Stephan-Max Wirth mit seiner Band schon aktiv. Die jetzt zum fünfundzwanzigjährigen Jubiläum veröffentlichte Live-Box mit 21 Stücken auf 4 CDs bündelt kaleidoskopartig die stilistische Vielfalt des zeitgenössischen Jazz: Ob in gewagten Post-Bob-Konzepten, Jazzrock- Exkursionen, Free Jazz-Anleihen oder sehnsüchtigen Balladen von oft sanglicher Qualität – Wirth demonstriert mit den Musikern seines deutsch-holländischen Quartetts schwerelose Virtuosität, kombiniert mit einem unbestechlichen Sound-Gespür....“

Auch am dritten Tag der Jazztage gab eine „Erfahrung“ zu machen, aber diesmal ohne Regenbogen, dafür mit Stephan-Max Wirth und seinen niederländischen Musikerfreunden, die gemeinsam Spielwitz und Spielfreude an den Tag legten. Sie unterstrichen während des Konzerts zudem, dass ein Quartett auch in zwei Duos „zerfallen“ kann oder aber auch in ein Trio und ein schweigendes Bandmitglied.


Obendrein war deutlich erkennbar, dass nicht nur durch Gesten und Mimik die Kommunikation betrieben wurde, sondern auch durch das „Zuwerfen klanglicher Bälle“, mit denen zu jonglieren war. Das eine oder andere Mal zeigte der Drummer mit ausladenden Bewegungen an, sprich mit den Sticks in den Händen, wohin die Klang-Reise gehen sollte. Noch etwas war auffällig, nämlich, dass die Musiker zugewandt zueinander agierten, ob nun der Bassist und der Gitarrist in ihrem Duo oder im Solo. Ähnliches galt für den Drummer und den Saxofonisten, vor allem in der Zugabe. Da ließ Stephan-Max Wirth seinen Holzbläser zwischen zwei Standmikrofonen erschallen und blickte dabei stets in Richtung des Drummers.


Im Vergleich zum Vortag fiel auf, dass sich der Drummer nicht hinter seinem Drumset verschanzte, sondern offen war, Anregungen aufgriff, Tempo verschärfte und mal auch  „Synkopisches“ setzte. Wenn auch eine zweite Standing Tom neben ihm stand, nutzte er diese überwiegend als Ablage für Perkussionsinstrumente.

Insgesamt war der Bandkontext harmonisch, waren die Musiker „synchronisiert“, zeigten deutlich, dass sie Spaß hatten, vor Publikum zu musizieren, endlich wieder zu musizieren. Und noch etwas schienen die vier Musiker zu vermitteln: Farbe ist angesagt bzw. Design aus den 1970er Jahren. Betrachtete man die Oberhemden der vier, so musste man an die Mode der „Blumenkinder“ zwischen San Francisco, Woodstock und Isle of White denken. Da gab es Blumenmuster, bunte geometrische Formen oder „psychodelische Schleifen in Rot und Gelb“. Wollten die Vier uns damit etwas über den von ihnen gelebten Zeitgeist sagen? Eines wurde bereits nach den ersten Takten klar: Jazz Rock stand im Fokus, ohne sich dabei an Chicago, die Brecker Brothers, Blood, Sweat & Tears oder Spyra Gyra anzulehnen. Die Wirth Experience teilte uns ihre eigenen Erfahrungen mit – und die hatten es musikalisch in sich.


Aus einem Bett aus Saitenklängen erhob sich sonor und schnurrend, aber auch langatmig der Klang des Tenorsaxofons. Fein gesetzt waren die Schläge des Drummers. Man hörte so etwas wie Tätättättschtschtschtätät heraus. Sticks wischten die vorhandenen Becken und die Hi-Hat. Und dann zeichnete Stephan-Max Wirth klangliche Schlaufen und Schleifen, derweil der Melodiegitarrist seine Gitarre rhythmisch einsetzte. Beim Solo des E-Gitarristen Jaap Berends musste man phasenweise an Carlos Santana, aber auch an Peter Green denken und doch auch wieder nicht. Wir reisten mit dem niederländischen Gitarristen in Klangsphären aus bauschigen Tonsilbenwolken. Der Bassist Bub Boelens nahm sich hier und da die Freiheit, als zweite Stimme den Gitarristen zu begleiten. Die Basslinien waren nur ab und an erdig, ansonsten durchaus mit hellen Sandtönen vergleichbar. Nach und nach wurde das Tempo des Stücks verschärft. Hörte man da nicht kurz den Ruf eines Muezzin? Oder war das alles Sinnestäuschung? Das Gebläse war über weite Strecken dominant, aber nicht marktschreierisch und aufdringlich. Es gab einen lyrischen Fluss, zudem auch ein markantes Solo des Drummers Florian Hoefnagels. Und auch dies zeigte einen dahin strömenden Fluss des Klangs und nicht nervöse Stakkatos sowie ein überschäumendes „Hau-Drauf-Prinzip“. Funk blitzte danach kurz auf, insbesondere in den sonoren Passagen, die Wirth vortrug. Sie glitten dahin, so wie Nebelschwaden sich heben, der frühe Tau vergeht, sich Sonnenstrahlen am Horizont zeigen.


Als Auftragsarbeit für das Bauhaus entstand, so Stephan-Max Wirth, das nachfolgende Stück mit dem Titel „Bluesmaschine“. Mit schweren Schritten, so suggerierte der Bassist mit seinem Fingerspiel, ging's voran. Fingerkuppen tippten kurz auf die Snare und Stephan-Max Wirth ließ sein Sopransaxofon „helltönig“ erklingen. Wirbelwindig, temporeich, aber auch beschwingt entwickelte sich das Stück. Von der Tragik, die einen Blues ausmacht, sowie von Nachdenklichkeit und Nachsinnen war nichts zu spüren. Auch von einer distinkten Rhythmik des Blues wie ein „8 to the bars“ konnte nicht die Rede sein. Lang gezogene Gitarrensaiten waren nicht vorhanden; doch Klangrotationen breiteten sich mehr und mehr aus.  Der Bassist schuf mit seinem Spiel gleichsam das Fundament, auf dem die anderen Musiker ihre „Klangtürme“ bauten. Die musikalischen Linien, die der Gitarrist uns über weite Strecken zu Gehör brachte, schienen eher im Rockabilly und Rock 'n' Roll verwurzelt. Eruptives setzte der Saxofonist dem ergänzend hinzu.

Ein Hinhörer und auch ein Hingucker als Beispiel für non-verbale Kommunikation war das Duo von Bassist und Drummer. Flirrende Snare und raschelnde, wirbelnde Bleche trafen auf Tiefklang per se. Und im Abgang des Stücks gab's noch ein „trillerndes Sopransaxofon“.  Spätestens zu diesem Zeitpunkt hatte das Quartett  die Verbindung zum Publikum geknüpft, das gelegentlich spontan Zwischenbeifall gab.


Eine geometrische Form mit zwei Zentralpunkten wurde von den Musikern auch in Klangbilder umgesetzt, als sie „Ellipse“ spielten: Zu Beginn hatte man den Eindruck, der Holzbläser wolle eine Geschichte erzählen, von einer Fahrt übers Meer, von unsteten Winden, von heißem Wüstensand, von Palmen-Oasen, von fernen Welten bzw. vom Sehnsuchtsort Mittelmeer. Sehr lyrisch gestaltete Wirth seinen „Tenor-Gesang“ aus. Er schien dabei zu oszillieren und sich zwischen Punkten hin- und herzubewegen. Oh, nahmen wir da nicht auch ein Albeniz-Zitat wahr? Melodisch und nicht als „Fundamentalist“ zeigte sich der Bassist im Fortgang des Stücks. Zugleich paraphrasierte er Passagen des „Tenor-Gesangs“. Ja und dann gab es Raum für die gestalterische Kreativität des Drummers, der auch seinen Ellbogen dabei einsetzte, wenn es um Fellgeschwirr und -geflirre ging. Galoppierende Schlagwerkmuster nahmen wir wahr, rollende Bewegung zudem.

Vor dem sogenannten Werbeblock mit Hinweis auf die bisher veröffentlichten Alben und ein Kinderbuch rund um Jazz sowie eine Karnickelschar stand eine Ballade im Fokus. Dabei ging es auch um so manchen Traum. Feine in klangliche Lyrik eingebundene Linien nahmen die Anwesenden wahr, die wie in den Tagen zuvor sehr konzentriert dem musikalischen Geschehen folgten.


Was es mit „Kamsin“, einem Wind Nordafrikas, auf sich hat, wurde im Verlauf des Konzerts auch enträtselt. Und tatsächlich konnte man Windgeheul und Turbulenzen aus den melodischen Linien herausfiltern. Gerassel war wahrzunehmen, und der Saxofonist schien sich in der Welt orientalischer Kunstmusik heimisch zu fühlen, schienen Zuma und Duduk in den Klangfarben mitzuschwingen. Klanggespinste waren dem Gitarristen zu verdanken, der auch ein Wow-Wow-Wow bzw. ein Wah-Wah-Wah erklingen ließ.

Nach einer kurzen Pause ging es weiter auf dem musikalischen fliegenden Teppich. Auf den Spuren des „Mediterranean Lovebird“ waren wir dann unterwegs, so jedenfalls hatte der Berichterstatter die Ansage verstanden. Angetippte Blechränder, gedämpfte Snare und sich auftürmende Höhenlinien waren auszumachen. Grautönungen waren auf der „Sehnsuchtsreise“ nicht auszumachen, sondern eher die grellen Farben, wie sie sich in den Hemden der Musiker entdecken ließen. Das hatte auch etwas von Pointilismus, von Farbklecks-Verkettungen.Bildlich sah man dahin schwebende  Kraniche, die den Aufwind nutzen, um sich fortzubewegen. Besonders die E-Gitarre stach darin hervor, solche bildhaften Assoziationen zu entfalten.


Bisweilen sind es ja eher Zufälle, wenn einem Komponisten Titel zufliegen. So geschah es, als der Berliner Saxofonist in Bremen im Licht- und Luftbad spärlich bekleidete Menschen an sich vorbeihuschen sah. Er war für ein Soloprogramm gebucht worden, ohne das es den Titel „Morning Dance“ nie gegeben hätte. Das Stück hatte Schwung, aber nicht Swing im engen Sinne. Tanzschritte waren herauszuhören, aber nicht solche von Lindy Hop. Kein Wunder vergegenwärtigt man sich in welchem Kontext sich die Band selbst sieht: Jazz Rock und Free Jazz – siehe die obige Einleitung.

Im Auf und im Ab bewegte sich die Linienführung des Saxofons, dabei manchmal auch röhrend und röchelnd, aber nicht lauthals klingend. Ja, je länger man zuhörte, desto eher schien der Ruf ans Ohr zu dringen: „Move your body … shake your body“. Nach „zeremoniellem Tanz“ und Pogo klang das, was wir zu hören bekamen, oder? Ein Leckerbissen waren in diesem Stück die Interventionen des Drummers.

Acht Monate konnten sich die Bandmitglieder nicht sehen. Das war die Geburtsstunde der Komposition „Friends“ aus der Feder des Bandleaders. Dabei vermischte sich Elegisches mit kurzen Ravelschen Verweisen, oder? Zum Konzertabschluss hörten wir „Zoom“, ein Stück, das über weite Passagen durchaus an die Musik einer Zirkuskapelle denken ließ, die zur gewagten Hochseilakrobatik unterm Zirkuszeltdach aufspielt. Der Schlussbeifall war anhaltend, sodass die Zugabe keine Frage war. Sie zeigte die Band nochmals in allen ihren schillernden Facetten und vor allem in der Fähigkeit, nicht nur in Solos zu brillieren, sondern auch in Duos für würzige Klangkombination zu sorgen. Wat een geweldige band, wat leuke muzikanten. Tot ziens ...


Der Vorhang schloss sich im übertragenen Sinne.  Ob sich im nächsten Jahr der Vorhang wieder öffnen wird – es ist ja Jubiläumsjahr – ist aufgrund der geplanten Sanierungen in Stroetmanns Fabrik noch nicht gewiss. Ausweichräumlichkeiten mit ähnlichem Ambiente sind in der „Wannenmacherstadt“ Emsdetten leider nicht vorhanden. So heißt es Daumen drücken, dass die Sanierung schnell von statten geht, ansonsten ist dann 2025 das Jubiläumsjahr mit  Jazz vom Feinsten.

© Fotos und Text ferdinand dupuis-panther 2023


Weitere Infos

www.emskult.de



Martin Weinert Rainbow Experience

https://site.susanweinert.com/index.php/de/synergy-duo
https://www.sebastianvoltz.de/projekte/swrt/


Jonas Timm Morbu
https://www.jonastimm.de/morbu/



Stephan-Max Wirth Experience
http://stephanmaxwirth.de


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