Yolk Records presents Fall 2025
Various
YOLK Records
Louis Sclavis / Matthieur Donarier

Louis Sclavis – India
Der französische Klarinettist und Bandleader Louis Sclavis schreibt zum Album: "The sound of this formation allowed me to fetch themes from different musical worlds, from jazz to brass bands or street performers. I called this project INDIA as a reference to the title of the album I first recorded as a band leader: CHINE. This music is composed of melodies, dances, and improvisations supported by tenacious beats and rhythms. This brings out memories of a theatre on the docks of Calcutta, of a long train in the countryside, of a night in the Kalighat Kali Temple, of a brass band during Hindu Festival Ganesh Chaturthi... I wish that people hear the sounds of a faraway place that feels more like a dream than reality.“
Unser Bild von Indien und der Musik Indiens ist durch die westlichen Rezeptionen von Ragas ebenso geprägt wie durch die Sitarmusik von Ravi Shankar und der Zusammenarbeit zwischen dem Saxofonisten Charlie Mariano und dem Karnataka College of Percussion. Und nun nimmt uns also Sclavis auf eine musikalische Indienreise mit.
Von der Instrumentierung der Band erinnert nun gar nichts an die musikalischen Exkursionen der zuvor Genannten. Zu Beginn wird an die so genannte Königin der Banditen erinnert; Poolah Devi ist ihr Name. Sie gilt zudem als Wiedergeburt der Göttin Durga, der zornigen und allmächtigen Muttergöttin des Hinduismus. Sie gehörte zur Kaste der Unberührbaren, erlebte Zwangsverheiratungen, Vergewaltigungen und Entführung. Sie war Anführerin einer Gruppe von Banditen und für die sozialistische Samajwadi Party gewann sie 1996 und 1999 einen Sitz im indischen Parlament. 2001 wurde sie ermordet. Also dieser Volksheldin der Armen widmet sich das Eröffnungsstück des Albums. Dabei hören wir ein Stück, das sich der Schönheit der Melodie verpflichtet fühlt. Eingebettet in die motivischen Themen ist ein sehr hörenswertes Solo des Klarinettisten Lous Sclavis. Sonor und zugleich exaltiert ist das, was zu hören ist. Um ein Bild zu nutzen, könnte man beim Zuhören daran denken, dass der Flug eines Vogels nachgezeichnet wird. Frei wie ein Vogel, so fühlte sich Poolah Devi jedoch nicht. Sie war in gesellschaftliche Zwänge eingebunden.
Der Pianist Benjamin Moussy gestaltet nachhaltig die Ouvertüre zu „Un Theatre sur les Docks“. Anschließend ist es dann der Trompeter Olivier Laisney, der in „bewegten Klang-Bildern“ das Stück gestaltet. Musikalisch erinnert dieses Stück wie auch der Eröffnungstitel durchaus an die Musik des legendären United Jazz & Rock Ensembles. Zugleich wird dem Stück auch eine orientalische Note beigefügt, mal abgesehen von der Tatsache, dass die Bassistin nicht eine marginale Figur ist, sondern ein sehr ansprechendes Solo präsentiert, begleitet vom Drummer und Pianisten, also der klassischen Rhythmusgruppe. Auffallend ist außerdem, dass der Pianist es versteht, die Bassklänge ebenso herauszustellen wie den Diskant, zumeist kaskadierend, sprudelnd und verwirbelt. Das klingt kurz gesagt nach großem Kino.
Ob es sich bei dem genannten Tempel um einen in New Delhi handelt, müssen wir mal mit einem Fragezeichen versehen. Es geht jedenfalls als Segment des Albums um „A Night in Kali Temple“. Spielt Sclavis nicht Bassklarinette, wenn er uns zu einem nächtlichen Tempelbesuch mitnimmt? Ja, das ist bei „A Night in Kali Temple“ der Fall; es ist ein Stück mit getragenem Duktus, durchaus auch ein wenig nach klassischer sakraler Musik klingend. Ein besonderer musikalischer Leckerbissen ist das Zusammenspiel zwischen Sclavis und dem Trompeter Olivier Laisney. Gelegentlich hat man den Eindruck, das Stück driftet zwischen Filmmusik und klassischer Musik eines russischen Komponisten des 19. Jahrhunderts hin und her.
Ein weiterer Song mit deutlichem Indien-Bezug im Titel ist „Madras Song“: Madras ist der frühere Name von Chennai und einst Zentrum der britischen Kolonialmacht in Indien. Mit einem gewissen Swing durchwebt Sclavis diesen Song. Eher strengere Linien setzt der Trompeter, der in einem Dialog mit dem Klarinettisten eingebunden ist. Lichter einer indischen Großstadt scheinen die Musiker einzufangen. Jedenfalls kann man sich allerlei Beigaben eines urbanen Settings zur Musik denken: bunte Neonbeleuchtung, hektischer Autoverkehr, Garküchen im Straßenbild, Lastenträger und dreirädrige Autorikschas. Zum Schluss erklimmen wir musikalisch den K2 („.Montée au K2“). Dabei wird thematisch wiederholt und phrasiert, was bereits ansatzweise in anderen Stücken auf dem Album zu hören war.
© fdp 2025
BANDCAMP
Musicians
Louis Sclavis — clarinets
Olivier Laisney — trumpet
Benjamin Moussay — piano
Sarah Murcia — double bass
Christophe Lavergne — drums
Tracks
1. Phoolan Devi
2. Un Theatre sur les Docks
3. Mousson
4. A Night in Kali Temple
5. Madras Song
6. Gange
7. Long train
8. Short Train
9. Montée au K2
Matthieu Donarier – Coastline
Zu Beginn sollen ein paar Zeilen aus dem Ankündigungstext zum Album zitiert werden: „Adventurous, imaginative and navigating the French jazz scene for over a quarter century, Matthieu Donarier has often played with aesthetics and foiled attempts at style classifications. Fan of sophisticated metrical and harmonic forms as well as popular songs, of chiselled compositions as well as free improvisation, here he is presenting for the first time the fruit of a quartet work which at first glance seems very classical: saxophone, piano, double bass, drums. A jazz cliché? Don't be fooled: Matthieu Donarier's homage to one of his masters is a tribute to an entire jazz memory in a limpid and spontaneous opus marked by freedom and mutual listening.“
Mit einem musikalischen Gezeitenstrom, „Ebb Tide“ wird das Album eröffnet. Ans Ohr des Hörers dringen lang schwingende Basstöne und der überbordende Klang eines Sopransaxofons, das die musikalische Himmelsleiter erklimmt, so ein mögliches Bild. Man muss beim Hören weniger an Meeresrauschen denken, sondern an anlandendes und sich zurückziehendes Wasser, an Strömungen und an kleine Meereswogen, die sich an Felsen brechen. Dieses Bild verfestigt sich insbesondere, wenn es an der Pianistin Sophia Domancich ist, die Schraffuren des Stücks zu definieren. Bewegung wird hörbar, Bewegung unterschiedlicher Intensität. Angesichts des intensiven „Schlagwerkrauschs“ keimen durchaus auch Bilder von weißen Schaumkronen auf und von Wogen, die sich rollend überschlagen. Hier und da nimmt man schon wahr, dass das Stück auch einzelne Bausteine vorstellt, die zusammengenommen den Gezeitenstrom musikalisch erfassen.
Mit einer Bass-Eröffnung und dem Gewische mit Besen auf Fellen macht „The Walk“ auf. Schrill und spitz klingt das Sopransaxofon, gespielt von Matthieu Donarier, Doch auch sonore Passagen stellt uns der Saxofonist vor, wenige, aber ja. Die Basslinien ziehen sich durch das Stück, bilden gleichsam eine Art roter Faden. Erfasst die Pianistin Sophia Domancich mit ihren Klangschritten nicht mit feinem Gespür das, was einen Spaziergang, einen Fußmarsch ausmacht? Schritte, zögerliche, flüssige, schnell, auch Trippelschritte, große Schritte über Trittsteine werden nachvollziehbar, oder? Der Saxofonist scheint mit seinem Spiel, das nach Alarm und Vorsicht klingt, auf Herausforderungen hinzuweisen. Mit festem Schritt ist der Bassist Stéphane Kerecki unterwegs, hierher und dorthin. Derweil skizziert der Saxofonist die Landschaft, durch die wir „reisen“. Lässt er uns dabei nicht auch an schroffe Klippen denken?
Unter anderem gehört auch „Pebbles“ zum musikalischen Repertoire des Albums. Kieselsteine gilt es zu entdecken, auch in ihren unterschiedlichen Färbungen. Abgeschliffen hat sie der Wind und das Wasser. Das setzt der Saxofonist in seinem „Gesang“ um. Da gibt es Wiederholungen; da gibt es zudem eine gewisse Lyrik und Poesie. Teilweise hat man den Eindruck, dass sich in den solistischen Einlagen von Matthieu Donarier, ein Ausflug an den mit Kieseln übersäten Strand musikalisch beschrieben wird. Und stets muss man auch an Wellengang und stete Winde denken. Man höre dazu auf die Pianistin und deren aufgeladenes Spiel, mit und ohne Umspielungen und Kaskadierungen. In „Domino Effekt“ hat der Drummer Simon Goubert Raum für ein ausgiebiges Solo zu Beginn des Stücks. Doch dann „interveniert“ der Saxofonist und dominiert die Klangfärbung. Das unterscheidet sich wenig von den anderen Stücken des Albums. Am Ende heißt es „Is That You“ – ein Tag an der Küste ist vorbei.
© fdp 2025
Musicians
Matthieu Donarier —soprano saxophone, compositions
Sophia Domancich — piano
Stéphane Kerecki — double bass
Simon Goubert — drums
Tracks
01 — Ebb Tide
02 — The Walk
03 — Whim Wham
04 — Peebles
05 — The Hidden Ones
06 — Domino Effect
07 — Is That You?















