Tom Harrell im Westfälischen Kunstverein

Münster, 2. Mai 2018



Mit mehr als cum tempore begann der Konzertabend vor einem in Scharen gekommenen Publikum, das sich im „Konzertsaal“ des LWL Museums für Kunst und Kultur drängte. Alle waren auf den Auftritt des Trompeters und Flügelhornspielers Tom Harrell und seines Quartetts gespannt. Neben Tom Harrell, aus dessen Vita unter anderem die Zusammenarbeit mit Horace Silver, aber auch mit Stan Kenton, Bill Evans und Charlie Haden zu nennen ist, standen Danny Grissett (piano), der aus Münster gebürtige Ugonna Okegwo (bass) und Adam Cruz (drums) auf der Bühne des Museums.

„Mit dem Trompeter Tom Harrell ist einer der großen amerikanischen Jazzkünstler unserer Zeit zu Gast.“ So las man es in der Vorankündigung. Solche Aussagen haben m. E. eine sehr kurze Halbwertzeit und sind zudem auch stets hinterfragbar, selbstverständlich auch auf dem Hintergrund der Geschichte des Jazz, in deren Zeitenlauf Miles Davis, Clifford Brown, Chet Baker oder Maynard Ferguson als Trompeter Stil prägend waren. Und auch gegenwärtig scheinen mir einige Trompeter aus Europa durchaus nennenswert, da sie auf sehr hohem Niveau überaus erfolgreich agieren. Dazu zählen nicht nur der gut vermarktete Till Brönner, sondern auch Markus Stockhausen oder auch Matthias Eik und Verneri Pohjola. Zurückhaltung scheint mir daher geboten, wenn es um die Bewertung und Belobigungen von Musikern geht, zumal das auch in der Tat ein Geschmäckle haben kann.

Verbale Kommunikation zwischen Bühne und Publikum war an diesem Abend Anfang Mai nicht angesagt. Weder wurden die einzelnen Kompositionen vorgestellt, noch gar über deren Entstehung einige Worte verloren. Nun gut, die Musik sprach partiell für sich, doch um die Distanz zwischen Musikern und Zuhörern zu überwinden, wäre eine kurze Verbalisierung aus meiner Sicht schon angebracht gewesen.

Harrell, der sichtlich körperlich beeinträchtigt war, war dazu augenscheinlich nicht in der Lage. Dann aber stellt sich die Frage, warum nicht einer seiner Mitspieler die Rolle übernahm, mit dem Publikum ein wenig kurzweilig zu plaudern. Dass kein zweiter Dizzy Gillespie auf der Bühne stand, der überaus launisch und witzig seine Zuhörer in den Spielpausen unterhielt, war jedem der Anwesenden ersichtlich, aber es hätte dem Abend wohl gut getan, ein wenig mehr über das jüngste Album zu erfahren, das in Münster vorgestellt wurde, jenseits des musikalischen Vortrags.

Insgesamt schienen alle Beteiligten auf der Bühne sehr angespannt. Nur selten sah man eine Zugewandtheit oder gar ein Lächeln im Gesicht der Agierenden. Ernsthafte Konzentration schien die Spielfreude verdrängt zu haben. Am ehesten blitzte Spielfreude auf, wenn das Quartett sich auflöste, wenn im Trio oder im Duo agiert wurde.

In einem Interview mit Fred Jung – die Quelle ist unten aufgeführt – antwortete Harrell auf die Frage nach den Einflüssen auf sein Spiel: „The first influence was Louis Armstrong for me and then I started listening to Roy Eldridge and then I listened to Dizzy and Clifford Brown. I heard Clifford Brown when I was listening to the radio in the eighth grade. I tried to maintain his style as well as Blue Mitchell and Clark Terry.“ Viel entscheidender scheint jedoch Harelles Bezug zum Jazz, den er in folgende Worte fasste: „It’s the ultimate expression of freedom. It’s like a beautiful marriage of many kinds of influences of the 20th century.“ Und das setzten er und seine Mitspieler in der Tat voll und ganz um, wenn auch aus meiner Sicht eine gewisse Lockerheit eher fehlte.

Das Quartett zeigte sich nicht als monolithischer Block, sondern löste sich auf in Solisten, in Duetts zum Beispiel zwischen Harrell und dem Pianisten Danny Grissett oder zwischen dem Bassisten Ugonna Okegwo und dem Drummer Adam Cruz. Harrell zog sich das eine oder andere Mal gänzlich zurück und überließ der Rhythmusgruppe das Spielfeld der Bühne.

Die Kompositionen und Arrangements ließen Raum für jeden der Musiker, wenn auch der Bassist leider nur bei Solos seine Stärken voll und ganz unter Beweis stellen konnte, weil er dann auch hörbar war. Er wurde in seinem Spiel stellenweise durch eine viel zu aufdringliche Basstrommel in den Hintergrund gedrängt. Da fehlte dann doch die akustische Feinabstimmung durch den Mann an den Reglern, oder?

Mit gemäßigtem Tempo begann der Konzertabend. Besengewische auf Snare und Hi-Hat traf auf feine Tastenschritte und Trompetengeflüster. Im Weiteren entwickelte sich daraus ein akustisches Aufbrausen. Zurückhaltend agierte dabei Adam Cruz, der nicht sehr offensichtlich den Spielfluss vorantrieb. Die Klangfarben bestimmten Tom Harrell und Danny Grissett. Tänzelnde Sprungschritte an den weißen und schwarzen Tasten trafen auf gehauchten Horngesang.

Bisweilen zog sich Tom Harrell aus dem Geschehen zurück und überließ der Rhythmusgruppe die klangliche Linienführung. Da trafen dann Tzicktzichtacktack auf Tamtamtötatä. Im Stakkatomodus zeigte sich Adam Cruz am Snare, Hi-Hat und Tom, als er solistisch agierte. Stieg Tom Harrell wieder ein, dann schienen vor den Augen der Zuhörer klangliche Schäfchenwolken dahinzuschweben. Alles schien im Fluss und im Flug, ganz jenseits von „Volare“!

Der sehr zurückgenommen agierende Bassist traf im Laufe des Abends auf den in seine Schlagwerkverwirbelungen verpuppten Schlagzeuger Adam Cruz. Feinstes Blechgeschwirr drang ans Ohr der Anwesenden. Als Harrell erneut eine Melodielinie zeichnete, meinte man auch ein wenig Bop zu vernehmen. Bilder von gekonnt agierenden Rollerskatern, von am Himmel kreuzenden Flugdrachen, von Eisverkäufern am Strand und verliebten Paaren kamen bei dem einen oder anderen im Saal auf. A lazy Sunday afternoon wurde, so hatte es den Anschein, zelebriert. Wellenbrecher rauschten heran. Surfer erwiesen sich als Gipfelstürmer und tanzten auf Wellenkämmen. Auch in diesem Abschnitt des Konzerts erwies sich Tom Harrell an seinem Horn als ein Überflieger mit einer Vorliebe fürs zerbrechliche Tonwerk, derweil Adam Cruz sich als Berserker an seinem Schlagwerk zeigte.

Als den wohl beeindruckendsten Teil des Konzerts muss man das Duett zwischen dem Pianisten Danny Grissett und dem Trompeter Tom Harrell ansehen. Hier und da hatte dieses kammermusikalische Züge. Pulsierendes Tastenspiel, an niedergehende große Regentropfen erinnernd, entwickelte sich zu einem tonalen Rinnsal, das aus einem Quellgebiet strömt. Aus dem Konzertanten brachen Dissonanzen auf, die an Free Jazz denken ließen. Diskanter Nieselregen ging schließlich auch noch auf die Zuhörer nieder.

Redundanzen begegneten klangvollen Flügelschlägen, die Tom Harrell geschuldet waren. Feuriges Gebläse gab es als Beigabe. Blues-Anmutungen kreuzten sich mit klassischen Inspirationen. Ob nun Tom Harrell zur Trompete oder zum Flügelhorn griff, schien aufgrund des ähnlichen Ansatzes für die Klangpalette ohne wesentliche Bedeutung zu sein. Die Nuancen waren minimal und der Klang des Flügelhorns keineswegs dezidiert samten und die Weite einfangend, wie dies bei anderen Flügelhornspielern der Fall ist.

Funkenflüge und Feuergeprassel waren zu erleben. Der von Dünen abgetragene Sand schien akustisch eingefangen zu werden. Staubwolken und ausgemachte Windhosen konnte man in einzelnen Sequenzen des Konzertvortrags sehen.

Der Duktus schien auch im zweiten Teil des Konzerts ähnlich wie im ersten Teil zu sein. Da gab es keine überraschenden Brüche, sieht man einmal von einem fulminanten Schlagzeugsolo Adam Cruz' ab. Selten genug erlebt man derartige solistische Interventionen. Wolkenschwall traf dann auch Donnerhall, um ein Bild zu zitieren.

Das Melodiöse wurde gesucht und auch gefunden, manchmal in liedhafter Formensprache. Einige Stellen erinnerten an Orient und nicht an Oxident. Da schienen die Musiker dann im Basar und in der Karawanserei unterwegs zu sein, für sehr kurze Augenblicke.

Das aufmerksame Publikum honorierte mit Zwischenapplaus solistische Einlagen und auch der Abschlussbeifall kam aus vollem Herzen.


Text und Fotos © ferdinand dupuis-panther. Text und Fotos sind nicht public commons oder public domains!



Informationen


Westf. Kunstverein Münster

http://www.westfaelischer-kunstverein.de/home/


Tom Harrell
http://www.tomharrell.com/
http://allthingstrumpet.com/tom-harrell-interview/


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