JazzLuck Januar 2017: Ulli Bartel/Lorenz Boesche Quartett

„Vorhang auf!“ hieß es am 26. Januar für Ulli Bartel (Geige, Mandola), Lorenz Boesche (Klavier), Paul Imm (Bass) und Thomas Altmann (Perkussion). Sie waren der Einladung des Münsteraner Schlagzeugers Ben Bönniger gefolgt, um die Konzertreihe JazzLuck in diesem Jahr zu eröffnen.

Seit sechs Jahren betreut Ben Bönniger diese Reihe, ein glücklicher Umstand, denn stets gelingt es, hochinteressante Musiker zusammenzubringen und dem Publikum neue Klangeindrücke zu vermitteln. Angesichts des aktuellen politischen Klimas, das von Abschottung geprägt ist, von „America first“ und „Eigen Volk eerst“, schien der heutige Abend besonders passend, befasste er sich doch mit dem, was Jazz ausmacht, dem Übergreifenden, dem bunten musikalischen Kaleidoskop, dem Verbindenden der Musik. Ben Bönniger fand dazu die passenden Eingangsworte, die klar und deutlich machten, dass Jazz mondial und global ist, keine Grenzen kennt, sondern grenzgängerisch angelegt ist. Hier gibt es dann auch keinen Raum für gewendete Begrifflichkeit wie „völkisch“, „national“, „nationalistisch“ oder gar „Reinheit“. Im Gegenteil, so Ben Bönniger, diese Begriffe sind dem Jazz absolut fremd. Bei Jazz ginge es auch darum, aus vorhandenem Material etwas Neues zu schaffen. Es ginge also auch darum, wie mit dem entsprechenden Material umgegangen wird. Das waren nachdenkliche Worte, die an diesem Januarabend zu vernehmen waren.


Deutsches Liedgut war einst verpönt

Deutsches Liedgut war über Jahrzehnte diskreditiert, weil es insbesondere während des sogenannten III. Reichs propagandistisch missbraucht wurde. Erst die Liedermacher-Bewegung, auch und gerade die Treffen auf Burg Waldeck in den späten 1960er Jahren, schufen einen neuen Zugang zu diesem beinahe verschollenen Liedgut, erweiterten dieses vor allem um eigene Texte. Erinnert sei dabei an Franz-Josef Degenhardt, an Hannes Wader, Knut Kiesewetter und andere, die dem deutschen Liedgut das Pathos nahmen. Gruppen wie Zupfgeigenhansel und Liederjan nahmen sich des „verschollenen Liedguts“ gleichfalls an und popularisierten dieses.

Ein schneeweiß Vögelein und ...

Der Geiger und Mandolinist Ulli Bartel sowie der Pianist Lorenz Boesche präsentierten in ihrem Programm und auf der gleichnamigen CD „Es saß ein schneeweiß Vögelein“ Bearbeitungen alter, teilweise fast vergessener deutscher (Volks)lieder. Dabei spielten sie diese sehr kurzen Melodien, wie sie diese von den Harmonien und den Rhythmen her begriffen. Ulli Bartel betonte dabei, dass er den Begriff „Verjazzen“ sehr unpassend finde. Schließlich ginge es darum, aus den vorhandenen Materialien, die er und Lorenz Boesche in alten Sammlungen mit schönen Radierungen und Stichen gefunden haben, zeitgemäße Arrangements zu entwickeln. Beide Musiker kennen sich schon seit Teenager-Zeiten, haben auch beide in den USA studiert, jedoch erst jetzt zu einem musikalischen Zusammenarbeit gefunden, so Lorenz Boesche in einer seiner Zwischenansagen.


Geige und Mandola – selten im Jazz

Lorenz Boesche und Ulli Bartel hatten sich zunächst unabhängig voneinander mit dem Thema „deutsche Lieder“ befasst, so erfahren wir, ehe dann ein gemeinsames Projekt zum deutschen Liedgut – angefangen bei „Der Mond ist aufgegangen“ über „Nun will der Lenz uns grüßen“ bis hin zu „Christ ist erstanden“ und „Es war ein König in Thule“ (Johann Wolfgang von Goethe) zustande kam. Die Klangfarben des Abends wurden vor allem von zwei Instrumenten bestimmt, die im Jazz eher selten oder gar nicht zu hören sind: Tenorgeige und Mandola. Gewiss, in der Geschichte des Jazz spielt die Geige schon eine gewisse Rolle, man denke nur an Stephane Grappelli, der für Swing steht, oder aber an Jean Luc Ponty und Didier Lockwood, die beide zwischen Modern Jazz und Fusion einzuordnen sind. Die Mandola, zur Familie der Mandolinen gehörend und in Süditalien sehr verbreitet, ist hingegen eher aus dem Bluegrass und keltischer Folklore bekannt. Doch auch in der ernsten Musik findet man Kompositionen für dieses Zupfinstrument. So schufen Komponisten wie Vivaldi und Beethoven Werke für die Mandoline.


So treiben wir den Winter aus

Mit „So treiben wir den Winter aus“ wurde der Abend eröffnet, an dem Jazzliebhaber in großer Zahl den Weg ins Museum für Lackkunst gefunden hatten. Die Einführung des bearbeiteten Liedes hatte eine durchaus bluesige Note, dank des Pianisten Lorenz Boesche. Der Gedanke an ein deutsches Volkslied kam im weiteren Verlauf nur selten auf, auch und gerade weil Congas und Bongos mit im Spiel waren und Ulli Bartel an der Geige eher sich dem Jazz Rock verbunden zu fühlen schien. Betont rhythmisch war die Bearbeitung ausgerichtet, auch im Hinblick auf das Pianosolo von Lorenz Boesche. Es groovte herrlich und beinahe schwappte die vorgetragene Bearbeitung schon in den Funk eines Les McCann über. Zugleich konnte man erahnen, dass die Wurzeln des Jazz auch in Afrika zu suchen sind. Fortgesetzt wurde das Konzert mit einem Kirchenlied: „Geh aus mein Herz, und suche Freud“. Es ist ein kirchliches Sommerlied von Paul Gerhardt, das aus dem 17. Jahrhundert stammt und bis heute zum gängigen Kanon von Kirchenliedern gehört.

Beim Begriff „Kirchenlied“ denkt mal wohl zunächst an einen getragenen Vortrag. Doch weit gefehlt, denn sehr beschwingt kam das Arrangement daher, und der eine oder andere Anwesende mag beim Zuhören auch an die Musik von Stephane Grappelli oder Helmut Zacharias gedacht haben. Ja, das Thema wurde von Ulli Bartel vorgestellt, dann aber variantenreich umspielt und fragmentiert, sodass man eher dachte, man werde zum Tanzen von Lindy Hop und Swing aufgefordert. Mit Verve setzen der Bassist Paul Imm und auch der Pianist des 4tetts rhythmische Zäsuren, abgesehen von Ben Bönniger, der die Becken zum Schwirren brachte, mit Cliquxcliqux und mehr. Frühlingshaftes konnte man dem losgelösten Solo von Lorenz Boesche entnehmen. Die winterliche Kälte war gänzlich verschwunden. Dialogisch verhielt sich anschließend Paul Imm am Bass, der die Sprache des Pianisten aufnahm und interpretierte. Genau das ist eben Jazz: Dialog, Kommunikation, Gespräch, eine gemeinsame Sprache des Improvisierens, der Changes und Bridges!

Eher Unbekanntes erklang mit „Die beiden Schwäne“. Alte Lieder verzeihen die moderne Bearbeitung, auch das Längen, denn meist seien die Melodien einprägsam und zugleich sehr kurz. Die Bearbeitung erfolge stets unvoreingenommen, suche nach anderen Rhythmen und nach Grooves. Diese Erläuterung stellte Ulli Bartel dem Stück voran. Teilweise schien es romantische Anmutungen gepaart mit höfischem Musikvortrag zu geben. An manchen Stellen drängte sich auch der Begriff der Kaffeehausmusik auf. Gab es da nicht auch Anleihen an einen Walzer, gefolgt von bluesiger Würze?


Ein „Jubelchoral“: Christ ist erstanden

Wahrscheinlich ist dieses Lied das älteste liturgische Lied deutscher Sprache und vermutlich um 1100 entstanden. Im Jahre 1160 wurde es in einer verbindlichen Liturgieordnung des Erzbistums Salzburg erwähnt. Bedächtig und andächtig stimmte die Geige das Thema an. Doch im Hintergrund agierte Ben Bönniger durchaus als treibende Kraft, ehe dann der Pianist Lorenz Boesche die thematische Linie bestimmte. Irgendwie überkam den Rezensenten der Eindruck, dass die Working Songs der afrikanischen Sklaven mit im Spiel waren. Hätte es in der Instrumentierung noch Waschbrett und Knopfziehharmonika gegeben, hätte man hier und da auch an Cajun-Musik aus Louisiana denken können. Mit „Viel Freuden mit sich bringet/ Kumme, kumme“ nahm das Konzert seinen Fortgang. Letzteres Stück finde sich, so Ulli Bartel, auch in der Carmina Burana, einer Sammlung von mehr als 250 Texten aus dem 11. und 12. Jahrhundert. Perlendes Klavierspiel traf beim Vortrag auf langen Bogenstrich des Geigers. Zu hören war zudem ein sensibel angelegtes Duett zwischen Bass und Flügel. Verhalten schien die Freude und nicht gerade überschäumend. Vor der Pause gab es dann noch das Titelstück der jüngst veröffentlichten CD zu hören: „Es saß ein schneeweiß Vögelein“.

Jeden Morgen geht die Sonne auf

Zunächst begrüßten wir den noch fernen Frühling mit „Nun will der Lenz uns grüßen“. Dabei swingte es im besten Sinne. Würde man ein Bild zu dem Arrangement malen wollen, so müsste man lachende, hopsende Kinder, Schiffsschaukeln, Riesenrutsche und glückliche Liebespaare darin unterbringen. Schnelles Fingerspiel auf den Tasten des Flügels klang wie ein auffrischendes Frühlingslüftchen und auf der anderen Seite wie ein kurzer prasselnder Regenschauer. Zudem schienen sich grüne Farbnuancen im Raum auszubreiten.

„Jeden Morgen geht die Sonne auf / In der Wälder wundersamer Runde. / Und die schöne, scheue Schöpferstunde, /  Jeden Morgen nimmt sie ihren Lauf. ...“ so heißt es in dem Lied, das folgte und dessen Text von Hermann Claudius stammt. Die 1949 entstandene Komposition ist Karl Marx geschuldet, eine umstrittene Persönlichkeit mit der Nähe zu den Nationalsozialisten. Er komponierte nämlich auch Musik für nationalsozialistische Feiern und Lieder für die Hitlerjugend. Man könne ihn aber durchaus spielen, denn man spiele ja auch Richard Wagner, so die Anmerkung von Lorenz Boesche zu „Jeden Morgen geht die Sonne auf“. Für meinen Begriff hatte dieses Kinderlied aufgrund der Bearbeitung nun gar nichts mehr mit dem Original zu tun. Gab es da nicht Reggae- und Ska-Anleihen, soweit es die rhythmische Setzung betraf? Stark war der rhythmische Anteil des Perkussionisten Thomas Altmann, der spielerisch zwischen Bongos, Congas und Kuhglocke wechselte.

Nachfolgend erlebten wir eine musikalische Wirtshausschlägerei um eine Frau, so Ulli Bartel, der damit „Maienzit“ ankündigte. Dem norddeutschen Liebeslied „Dat du min Leevsten büst ...“ sehr ähnlich ist „Rüttle an der Türe nit“. Beide erzählen von einem jungen Mann, der seiner Angebeteten nachstellt, ob er nun fensterlt oder aber die knarrenden Treppenstufen nehmen muss, um zu ihr zu gelangen, ohne dass die Eltern der Geliebten davon erfahren. Dass ein musikalischer Vortrag durchaus auch als Hörspiel zu bezeichnen sein kann, unterstrichen die Musiker im Museum für Lackkunst. Das hörte man die tapsenden Schritte – dank des Bassisten; da quietschten die Scharniere der Schlafzimmertür – dank des Madolinisten –, und man hörte auch ein Poltern – dank an den Drummer und den Perkussionisten. Ob wohl das Liebesglück von Erfolg gekrönt war, fragte sich der Zuhörer angesichts dessen? Mit Goethes „Es war ein König in Thule“ schloss das Konzert. Doch die Musiker ließen sich nicht lange bitten und präsentierten als Zugabe „Der Mond ist aufgegangen“. Aufgegangen war der Mond längst am Ende des Konzerts, das die Augen für ein Stück fast vergessener deutscher Literatur geöffnet hat, ein Verdienst der Musiker um Lorenz Boesche und Ulli Bartel.

© Text und Fotos: ferdinand dupuis-panther, 26.1.2017

Informationen

Museum für Lackkunst
http://www.museum-fuer-lackkunst.de/

Ulli Bartel
http://www.ullibartel.de/willkommen.html

Ben Bönniger
http://www.jazzhalo.be/interviews/ben-boenniger-interview-mit-dem-muensteraner-schlagzeuger/

CD Es war ein schneeweiß Vögelein
http://www.ndr.de/info/sendungen/jazz/Jazz-Album-der-Woche-Es-sass-ein-schneeweiss-Voeglein,bartelboesche102.html


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