Andreas Schaerer: Interview mit dem in der Schweiz lebenden Stimmvirtuosen

Im Kontext der St. Wendeler Jazztage traf ich mich mit Andreas Schaerer, der mit dem Sextett „Hildegard lernt fliegen“ und bei Auftritten zum Beispiel gemeinsam mit Lucas Niggli, Luciano Biondini und Kalle Kalima sowie anderen Musikern dank seiner Stimmgewalt und Stimmbrisanz für besondere Aufmerksamkeit sorgt, bei Zuschauern wie auch bei der Fachkritik.


Vom Studium am Lehrerseminar zum Gesangsstudium – war das ein stringenter Schritt? War es ein Bruch? Was war es?

AS: Nein, es war weder ein Bruch noch eine logische Entwicklung. Es war das Leben, wie es eben so spielt. Mit 20 habe ich diese Ausbildung zum Grundschullehrer abgeschlossen und ging dann lange Zeit auf Reisen. Dann überlegt man sich als junger Mensch: „War's das jetzt für die nächsten 45 Jahre? Richte ich mich da ein bis zum Ruhestand?“ Da war für mich klar, dass da noch was kommen muss. Die Musik war dann ein naheliegender Schritt für mich.

Siehst du dich als männlicher Stimmvirtuose im Umfeld der europäischen Jazzszene ein wenig als einen Exoten?

AS: Nein, überhaupt nicht. Ich erlebe immer wieder in Begegnungen, dass es sehr viele seelenverwandte Musiker und Musikerinnen in Europa gibt. Ich fühle mich weder als Vokalist/Sänger noch als Instrumentalist. Ich bin einfach Musiker wie viele andere auch. Für mich ist die Stimme mein Instrument. Das könnte im nächsten Leben auch eine Trompete oder ein Schlagzeug sein. Daher sehe ich mich nicht unbedingt als Exoten. Ich denke, es gibt sicher wenige, die sich über die Stimme eher als über ein Piano in diesem Feld ausdrücken, aber …


Ist es ein Zufall, dass du die Stimme für dich als das geeignete Instrument entdeckt hast? 

AS: Jein; ich habe als Kind eigentlich meine Stimme als mein liebstes Spielzeug genutzt. Und ich habe sehr viel Zeit mit der verbracht; viel gesungen, aber auch viele komische Geräusche gemacht und schon früh mit Beat Boxing angefangen, ohne zu wissen, dass man dazu Beat Boxing sagt. So habe ich eine ziemliche Virtuosität auf dem 'Instrument' entwickelt, ohne mir bewusst zu sein, dass ich daran bin, mein 'Instrument' zu entwickeln. Als ich anfing, in Bands zu spielen, habe ich nie gesungen, sondern Gitarre gespielt und erst viel später gemerkt, dass ich sehr viele klare musikalische Ideen in meinem Kopf habe, die aber nicht im Moment in der Geschwindigkeit auf die Gitarre umsetzen kann. So habe ich angefangen, den direkteren Weg zu suchen. Da war die Stimme sehr naheliegend.

Ist die Stimme für dich als ein gleichwertiges Instrument zu Altsaxofon, Gitarre, Schlagzeug und Akkordeon anzusehen? Oder siehst du deine Stimme abgesetzt davon?

AS: Nein, ich empfinde es so auch in den aktuellen Ensembles, mit denen ich arbeite, dass da niemand in diesen Kategorien denkt, sprich Musik- vs. Stimm-Instrument. Ich merke manchmal, dass Leute, die mich gar nicht kennen und auf die ich bei Jam Sessions treffe, für einen kurzen Moment irritiert sind, dass ich vielleicht nicht vorne an der Bühne stehe und einfach ein Thema singe, dann warte, bis alle ihr Solo gespielt haben, und dann wieder singe, sondern ich mich unter die Rhythm Section mische oder auch ohne Worte klangmalerisch mittue. Es gibt manchmal Leute, die sind im Moment irritiert, aber die, die mich ein bisschen kennen, bei denen sind diese Überlegungen nie vorhanden.


Spielt Lyrik im weiteren Sinne eine Rolle in dem, was du vorträgst? Oder ist das, was du vorträgst allein Fantasiesprache, Lautmalerei, tonale Modulation?

AS: Über weite Strecken kann ich ohne existierende Sprachen leben. Ich kann also auch nur mit Stimmklängen arbeiten. Ich mag es aber ganz gerne, diese Schnittstelle zwischen vorhandener Sprache und Musik zu erforschen, weil man die Sprache, wenn man sie abstrahiert, in Richtung Rhythmus entwickeln und alles entfernen kann, bis nur das rhythmische Skelett der Sprache vorhanden ist oder ich gehe in Richtung von Tonhöhen und kann Inhalt loslösen. Zwischen diesen Grenzen kann man Fäden kreuzen. Das finde ich sehr interessant. Gleichzeitig mag ich aber auch reelle Sprache, also traditionelle Lyrik. Ich habe jetzt auch wieder angefangen, viele Texte zu schreiben. Ich mag es auch, wie verschieden es sich in verschiedenen Sprachen anfühlt zu singen. Also auf Französisch, Italienisch oder Englisch ist für mich etwas ganz anderes als auf Schweizerdeutsch. Wir haben jetzt gerade eine CD fertig gemischt, die „A Novel of Anomaly“ heißt und mit Lucas Niggli, Kalle Kalima und Luciano Biondini sowie mir eingespielt wurde. Kalle Kalima kommt aus Finnland, Luciano Biondini aus Italien. Irgendwann habe ich gedacht, dass ich von jedem die Muttersprache auf der Platte haben möchte. Darum gibt es ein Stück auf Italienisch, eines auf Finnisch, eines auf Walliserdeutsch – das war die allererste Sprache, die ich gesprochen habe – und eines auf Englisch, von einem afrikanischen Poeten geschrieben, weil Lucas Niggli in Kamerun geboren wurde und dort seine ersten Lebensjahre verbracht hat. So gibt es von jedem die sprachlichen Roots auf dem Album. Es war ganz spannend auf Finnisch zu singen. Ich kann ja gar kein Finnisch. Das, was ich singe, ist sicher auch nicht akzentfrei, aber trotzdem ist es plötzlich so, dass dein 'Instrument' anders gefärbt ist. Das ist schon spannend.


Nun mal zu den Bandprojekten, mit denen du dich befasst, also auch mit „Pepetual Delirium“ und „A Novel of Anomaly“. Gibt es für dich Kriterien zur Auswahl der Musiker für derartige Projekte bezogen auf das Stimmvolumen, die Stimmfärbung, die Nuancen, die Harmonien und die Rhythmen oder ist das ein eher dem Zufall geschuldeter Prozess? Oder begibst du dich bewusst in die Situation eines Labors, in dem Versuch und Irrtum angesagt sind?

AS: Es gibt zwei verschiedene Konzepte: Das eine sind kollektive Bands, bei denen ein kollektiver Klangkörper herrscht; zum Beispiel mit dem Trio mit Gitarre und Trompete ist das so, auch bei „A Novel of Anomaly“ und „Out of Land“ sowie im Zusammenwirken mit Michael Wollny und Emile Parisien. Da geht es mehr um die Persönlichkeiten. Jeder der Musiker könnte auch irgendein anderes Instrument spielen. Es geht mehr um den Menschen hinter dem Instrument und den Dialog, der durch diesen Menschen, durch diese Seelen, quasi entsteht. Beim Projekt „Perpetual Delirium“ ist es ein bisschen was anderes. Da wurde ich ganz konkret  als Komponist angefragt, um für dieses Ensemble zu schreiben. Dasselbe gilt auch für das symphonische Projekt, was unlängst stattgefunden hat. Da wähle ich tatsächlich die Instrumentierung und entscheide viel mehr über die klanglichen Inhalte, auch bei „Hildegard lernt fliegen“ ist das so. Da habe eigentlich das Line-up bewusst gewählt. Es gibt also beides, das eine, wenn ich als Komponist denke und gerne noch zwei Oboen und drei Fagotte dabei hätte und so …; das andere, wenn ich als Jazzmusiker im open minded Sinne denke. Dann geht es mir um die Individuen und weniger um die Instrumentierungen.

Du trittst auch mit stimmgewaltigen, raumfüllenden Bläsern auf. Wie kannst du dich in deiner Tonfarbe gegenüber der Allgewalt von Saxofonen behaupten? Wie findest du deinen Platz in einem solchen Kontext wie mit den Musikern vom Arte Quartett?

AS: Je länger ich kompositorisch tätig bin, umso mehr denke ich nicht in einzelnen Instrumenten. Ich denke bei diesem Quartett nicht so sehr in den einzelnen Saxofonstimmen, sondern versuche, ein großes Instrument bestehend aus sechs Kreaturen zu sehen. Es geht dann darum, wie du es gewichtest, sprich Stimme mit dem Rest des Klangkörpers. Ich kann gut auch mal mit der Stimme im Hintergrund sein. Oder ich werde mit der Stimme Teil des Ensembles und verschmelze mit diesem. Dann bin ich nur eine Schattierung innerhalb eines größeren Instrumentes quasi oder ich bin solistisch tätig, gehe auch mal in den Vordergrund. Da ist eigentlich alles möglich. Beim Sextett heute Abend ist es auch schön, weil es kein Schlagzeug gibt. So bin ich oft mit Wolfgang Zwiauer zusammen die Rhythm Section, die die Saxofonisten antreibt. Das Sextet ist extrem vielseitig. Man kann es wie ein dreidimensionales Gebilde sehen, ein komplexeres Atom, von dem man ein Elektron wegnimmt und ein Neutron einpflanzt. So gibt es einen anderen Geschmack, eine andere Farbe.


Beim Quartett mit Niggli, Biondini und Kalima ist ja ein Schlagzeug vorhanden. Dennoch, so meine Erinnerung an den Auftritt beim Internationalen Jazzfestival Münster 2017, bist du hier und da in die Rolle eines Perkussionisten geschlüpft. Geschah das aus dem Moment heraus? Oder gibt es eine Vorabstruktur, in der du dich bewegst?

AS: Das Quartett ist ja noch eine sehr junge Band. Wir haben da noch nicht so viele Bühnenkilometer zurückgelegt. Von daher kann ich die Frage nicht abschließend klären. Es ist durchaus so, dass wir unterdessen ein Programm haben. Es besteht aus Stücken, die komponiert sind. Sie haben eine formale Struktur, eine harmonische Entwicklung etc., etc. und innerhalb dieser Stücke entscheiden wir uns manchmal auch, dass wir es heute Abend auch mal so und so zu probieren, mit der Option, dass wir alles, was wir abgemacht haben, auch wieder über den Haufen werfen können. Es kann also sein, dass wir quasi nach Plan spielen. Das passiert aber selten. Es ist dann doch immer jemand unvernünftig genug, irgendetwas anzuzetteln. Dadurch bleibt man wach und wendig. In dieser Band existiert zwischen Luciano und mir eine lustvolle Provokation. Dasselbe gilt für Kalle und Luciano. Dann mag ich es auch, wenn Kalle und Luciano tätig sind, in den Hintergrund zu treten und mit dem Lucas zu zündeln. Das ist aus dem Moment heraus. Das kann man nicht planen. Das ließe sich auch nicht reproduzieren.

Wie sind eigentlich die Namen für die musikalischen Projekte wie „Perpetual Delirium“ entstanden. Es heißt ja eben nicht „Perpetuum Mobile“! Stehen dahinter Programmatik und Konzept?

AS: Ein Bandname ist natürlich idealerweise etwas, das eine gewisse Temperatur besitzt oder Licht und Dunkel bei dem auslöst, der den Namen hört. Er sollte auch neugierig machen und haften bleiben. Der sollte eben nicht „Funky Fingers“ sein, da es das ja alles schon gibt. Bei „Perpetual Delirium“ habe ich mich gefragt, was eigentlich mein Antrieb für die Musik ist. Für mich ist es in großen Teilen auch die Suche nach einem Rauschzustand, nach einem endlosen Rauschzustand in der Musik. Ich habe dann überlegt, wie ich das formulieren könnte. Ich fand dann diesen Begriff ganz treffend.

„A Novel of Anomaly“ war eine Idee, die mir gefallen hat, weil es ein Zungenbrecher ist und es groovt, aber nicht hart wie „Takketakketaktaktak“. Es ist irgendwie weich. Dann ist es eine Erzählung über das Anormale. Ich fand es eine schöne Metapher. Es ist auch immer ein Stück Zufall. Beim symphonischen Projekt „Big Wig“ wusste ich, ich muss in zwei Wochen einen Namen haben. Dann bin ich morgens erwacht und die Idee war einfach da. „Big Wig“ – große Perücke, das ist cool. Ja, es ist das Klischee, dass Musiker mit Perücken alte Musik spielen. Manchmal brütet man ewig, manchmal gibt es Ideen die man quasi geschenkt bekommt. Beim Trio fiel uns nichts ein und wir blieben bei den drei Nachnamen hängen.


Schöpfst du bei deinem Vortrag auch aus dem Fundus des Scat Vocals und dem Gesang, dem Raga und Tala, des Karnataka College of Percussion?Beziehst du dich darauf auch, wenn auch nicht ausschließlich.

AS: Auf das traditionelle Scat Vocal schon. Ich habe das ja studiert. Ich musste mich auch mit den gesamten Jazzstrukturen und -harmonien befassen. Das hat mich geflasht und ich habe es auch gemocht. Wenn du das einmal in dir hast, bekommst du das auch nicht mehr weg. Die harmonischen Strukturen, Beschleunigungspatterns, rhythmische Verdichtungen – das ist alles da. Ich habe mich nie ernsthaft mit indischer Musik auseinandergesetzt, aber schätze sie und kenne einige wenige Interpreten. Das Lehrbuch, die Philosophie quasi, habe ich mir nie angeeignet. Was nicht heißt, dass mich das nicht interessiert. Für mich gab es eine intensive Studienzeit, und dann spielst du so viele Konzerte, dass jetzt gar nicht die Zeit vorhanden ist, um tief in eine neue Richtung zu graben. Es gibt auch Obertongesang, und ich wollte z.B. schon lange mit Christian Zehnder treffen, aber die Zeit ist einfach im Moment nicht da.

Ich danke dir für das Gespräch.

Interview und Fotos: © ferdinand dupuis-panther



Informationen

Andreas Schaerer
http://andreasschaerer.com/


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http://www.jazzhalo.be/reviews/cdlp-reviews/a/andreas-schaerer-arte-quartett-wolfgang-zwiauer-perpetual-delirium/
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