Alain Pierre – im Gespräch mit dem teilweise in Deutschland aufgewachsenen belgischen Jazzgitarristen

Ich traf Alain Pierre, dessen letzte Alben „Aaron & Allen“ ich bei Jazz'halo besprochen habe, am Rande der Jazzahead 2016 in Bremen.

Die veröffentlichte Biografie auf deiner Homepage spricht nur über deine musikalische Karriere, lässt aber die Wegstationen bis dahin außen vor. Darf ich dich fragen, ob und in welcher Art und Weise Musik während deiner Kindheit und Jugendzeit eine Rolle gespielt hat und welche Art von Musik war das?

AP: In meiner Familie spielte man keine Musik. Als ich Kind war, gab es keinen Fernseher bei uns, aber einen Plattenspieler mit nur ein paar Platten. Ich erinnere mich, es gab eine Platte von Chet Baker, zwei Platten von Louis Armstrong, eine Platte von Manitas de Plata, eine von Frank Sinatra und des Schlagzeugers Gene Krupa. Als ich dann auch Fred Astaire entdeckt habe, hat mir das gefallen. Ich wollte nicht Tänzer werden, aber der Swingrhythmus und das Klicken der Stepptanzschuhe haben mich sehr beeindruckt. Ich wollte mal Schlagzeug spielen, weil ich die Drums-Solos von Gene Krupa gehört habe. Ja, aber meine Eltern wollten kein Schlagzeug Zuhause haben. Die haben gesagt: „Spiel doch ein echtes Instrument!“ - „Okay, und dann lerne ich danach Schlagzeug.“ - „Was willst du machen?“ Ich wusste es eigentlich nicht. „Warum lernst du dann nicht Gitarre?“ - „Oh ja, okay“.

Was man in der Musikschule lernen konnte, das war nur klassische Gitarre. Es hat mir nicht so gefallen, aber ich habe Ja gesagt. Ich hatte keine Wahl. Mein ältester Bruder hörte Progressive Rock. Mich hat das begeistert, Gruppen wie Pink Floyd, die ersten Platten von Genesis mit Peter Gabriel und Yes. Die Musik war richtig interessant und hatte eine Verbindung mit klassischer Musik, diese symphonische Konstruktion. Bei diesen Vinyl-Scheiben gibt es manchmal auf einer Seite nur ein Stück. Ich sah darin eine Verbindung zwischen der Musik, die ich in der Musikschule spielen musste, und der Musik, die ich machen wollte. In den genannten Gruppen gab es schon 12-saitige Gitarren. Ich habe das nicht gewusst, aber ich habe es gehört. Als ich Teenager war, habe ich auf einmal wieder den Weg zum Jazz gefunden.


© Lara Herbinia

Was war der Schlüssel dazu? Gab es eine Platte wie „Kind of Blue“ oder „Bitches Brew“, die dich gefesselt haben?

AP: Nein, das nicht. Mein ältester Bruder hat mich stark an verschiedene Musik herangeführt. Er war nicht Musiker, aber … Nach Progressive Rock hat er Jazz Rock entdeckt. Ich habe die Platten von Philip Catherine, Larry Coryell oder Chick Corea „Return To Forever“ mit meinem Bruder gemeinsam gehört. Ich bin bei einem Jazz-Rock-Konzert gewesen, und danach bin ich zu Platten zurückgekehrt, die ich als Kind gehört hatte, also habe ich eine Verbindung zwischen Jazz Rock und Louis Armstrong geschaffen. Ich habe auch alle die Gitarristen wie Catherine, Coryell, Paco de Lucia und John McLaughlin eifrig gehört. Meine größte Begeisterung galt aber Ralph Towner, den ich auf ECM entdeckt habe. Er spielt immer noch mit dieser klassischen Technik, auf 6- und 12-saitigen Gitarren. Seit ich 15 oder 16 Jahre alt bin, ist Ralph Towner mein Mentor.

Bist du nicht froh darüber, dass deine Eltern dich auf die Gitarre und nicht auf die Klarinette gestoßen haben. Gitarre ist ja unter Teenagern sehr sexy.

AP: Gitarre ist mehr sexy als Geige oder Dudelsack. Ich bin sehr, sehr froh. Zufall existiert für mich nicht. Wenn es so ist, dann ist es so, weil es so sein sollte. Klassische Gitarre, das ist nicht sexy. Das war für mich sehr schwierig. Als ich mit Jazz angefangen habe, habe ich E-Gitarre gespielt. Das war dann für mich eine Befreiung. Klassische Gitarre war für mich ein bisschen langweilig.

Du hast doch am „Conservatoire Royal de Musique de Liège“ ein klassisches Studium absolviert?

AP: Ja, begonnen und beendet auch mit dem Diplôme supérieur. Ich bin auch froh, dass ich das gemacht habe. Ich habe Jazz immer parallel gemacht, auch während des Studiums. Für mich war die Musik von Ralph Towner die Verbindung von klassischer und Jazzmusik.

Heißt das, dass du im Studium die klassischen Etüden von Sor und anderen Barockmusikern gespielt hast?

AP: Ja auch, aber was ich viel studiert habe, war die Musik von Johann Sebastian Bach und Silvius Leopold Weiss. In Liège war man sehr Avantgarde und auf zeitgenössische Musik ausgerichtet. Ich habe viel zeitgenössische Musik für Gitarre studiert. In der Zeit war Henri Pousseur der Direktor des Konservatoriums. Er war ein Freund von Karlheinz Stockhausen. Ich habe in Liège auch Garrett List kennengelernt, der freie improvisierte Musik machte. Das ist ein Amerikaner. Er hat Workshops angeboten und ist in Liège geblieben. Er hat bis zur Jahrtausendwende freie Musik am Konservatorium in Liège gelehrt. Ich habe auch diese zeitgenössische Musik gemacht. Das war ja sehr nahe am Jazz, des freien Jazz, und der Musik, die man auf ECM finden kann. Ralph Towner und Keith Jarrett, Jan Garbarek, Jon Christensen, Eberhard Weber, auch natürlich Pat Metheny, haben den größten Einfluss auf mich, der Jazz der 70er Jahre.

Welche Wirkung und welchen Einfluss hat das auf deine aktuelle Musik, ob mit WRaP! oder Tree-Ho!? Das ist doch gebundene Musik und nicht etwa eine freie?

AP: Also, ich glaube, das sieht man an der Konstruktion meiner Stücke. Viele Musiker sagen, deine Musik ist nicht einfach. Man muss doch viel üben. Ich habe nicht viel Blues geschrieben zum Beispiel. Ich habe vielleicht zwei, drei Blues in meiner Karriere komponiert. Meine Kompositionen umfassen manchmal bis zu vier Notenblätter. Es gibt viele Konstruktionen in meinen Kompositionen. Das ist der Einfluss klassischer modernen Musik.


© Lara Herbinia

Welche Bedeutung hat das Great American Songbook?

AP: Ich habe das auch immer gespielt, und ich mache das auch heute noch. Das ist das Grundzeug. Das muss man machen. Das ist das allgemeine Vokabular. Wir müssen alle diese Standards spielen. Wenn ich einen schwedischen, kubanischen und amerikanischen Musiker treffe, was werden wir spielen? „All The Things You Are“ oder „So What“ vielleicht und nicht „My Song“ von Keith Jarrett. Die Bebop-Sprache, das ist unser Vokabular, das Jazz universal macht. Als ich in Brüssel am Konservatorium studierte, musste man das lernen, so wie man Deutsch oder Französisch in der Schule lernen muss. Man bekam eine Liste mit 20 Standards in jedem Jahr, die man auswendig lernen musste. Die Ausbildung dauerte fünf Jahre!

Ralph Towner, als er in den 1970er Jahren in New York war, lebte er im Appartement von Wayne Shorter. Die übten da mit Oregon eine Art World Music, auch wenn es noch nicht so hieß. Towner ging abends in die Clubs und spielte am Klavier Standards – Towner ist auch Pianist –, um Geld zu verdienen. Das müssen wir alle machen. Das hat generell und weltweit einen Einfluss: Jazz und Blues sowie das American Songbook.

Würdest du sagen, dass es eine eigenständige europäische Jazzlinie gibt? Dazu gehört auch die Beschäftigung mit Purcell, Bartok oder Messiaen, also mit klassischer Musik aus Europa?

AP: Ja, es gibt mehrere europäische Jazzsounds. Der erste war Django Reinhardt. Er gab dem Jazz einen echten europäischen Stempel. An den 70er Jahren – da hat auch ECM eine große Rolle gespielt – gab es einen weiteren europäischen Stempel im Jazz, der viele Amerikaner beeinflusst hat. Ich denke an Keith Jarrett mit seinem europäischen Quartett, Jan Garbarek, Jon Christensen und Palle Danielsson. Wenn du Pat Metheny über Eberhard Weber sprechen hörst, sagt er, es gibt nur einen Eberhard Weber, der ist weltweit einmalig. Er hat viele, viele Musiker beeinflusst, nicht nur in Europa. Manche Amerikaner sagen, Jazz ist nur amerikanisch. Das ist für mich wahnsinnig, denn es gibt einen europäischen Jazz, der natürlich vom amerikanischen Jazz, aber auch von der Klassik und der Weltmusik beeinflusst wird. Ich bin überzeugt, dass es einen europäischen Jazz gibt, und ich bin als Jazzmusiker in diesen hineingeboren.


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Du arbeitest in deinem neuen Trio mit deinem Sohn zusammen. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit? Dein Sohn ist ein ausgezeichneter Schlagzeuger, der gerade bei Igloo Records das Album Urbex veröffentlicht hat.

AP: Wir waren immer zusammen. Wir haben schon zusammengespielt, als er noch Kind und dann Teenager war. Als er im Gymnasium war, war manchmal mein Schlagzeuger nicht frei, und ich habe ihn zum Spielen eingeladen. Ich sprach ja von all den Einflüssen, denen ich ausgesetzt war, von den Platten. Die hat mein Sohn auch gehört. Er hat auch andere Platten gehört, und ich habe viel mit ihm zusammen entdeckt. Für mich war es sehr, sehr organisch und natürlich, mit ihm ein Trio zu gründen. Ich habe ihn dann gefragt, welchen Bassisten er haben möchte. Da er viel mit Felix Zustrassen gespielt hat, fiel die Wahl auf ihn.

Dein jüngstes Album hast du mit dem Tree-Ho! eingespielt. Wie kam es zu diesem doch ungewöhnlichen Namen, der beim Sprechen zu Trio wird?

AP: Es ist ein Wortspiel. Ich hatte zuvor eine Band namens Acous-Trees, von der es kein Album gibt. Vielleicht aber gibt es mal irgendwann wieder ein Konzert. Ich hatte viele Gruppen. Was verband sie alle? Irgendwie ein Stamm, meine Kompositionen für ein Duo, ein Trio, ein Quartett und ein Quintett. Im meinem Kopf hatte ich für diese Gruppen einen sich verästelten Baum. Ich wollte beim Bandnamen auch nicht zu intellektuell erscheinen, sondern eher lustig.

Kommen wir mal zu deinem jüngsten Album: Wer sind eigentlich Aaron & Allen? Die beiden Dackel auf dem Cover?

AP: Hahaha, ja die Dackel ganz bestimmt. Meine Musik ist ja von den 70er Jahren beeinflusst, und ich erinnere mich an diese Plastikdackel mit wackelndem Kopf. Ich habe das mit dem Comiczeichner, der das Cover gezeichnet hat, besprochen, und er erinnerte sich auch. Wenn du das Foto auf der Rückseite des Covers siehst, siehst du nur einen Dackel. Aaron und Allen könnten vielleicht auch nur eine Person sein. Bin vielleicht ich diese Person? (Hahahaha!) Ich werde doch etwas enthüllen: Wir waren in New York. Antoine hat da studiert. Es war Februar und sehr, sehr kalt. Wir gingen dort oft zu Starbucks, weil es so kalt war. Wenn du deine Bestellung aufgibst, wirst du nach deinem Vornamen gefragt. Ich sagte Alan. Manchmal haben sie es wie bei Woody Allen eben Allen geschrieben und manchmal haben sie Aaron geschrieben. Das hat mir sehr viel Spaß gemacht. Ich hatte für ein Stück noch keinen Namen und dann habe ich gedacht: „Ja, Aaron & Allen!“

Woher nimmst du die Inspiration für Titel wie „Le Vin Noir“? Es klingt ja sehr französisch, auch nach einem Weinkenner und einem Gourmet. Was steht hinter dem Titel? Überlegst du solche Titel vorher oder nach der Komposition?

AP: Ich schreibe die Musik; ich spiele die Musik. Ich schreibe viele Stücke. Manche Stücke bleiben in der Schublade, weil es sich nicht lohnt. Wenn ich ein Stück anfange, schreibe ich das Datum und die Tonart auf. Über Titel denke ich gar nicht nach. Wenn ich das Stück fertig habe und es spiele, ja dann muss ich auch über einen Titel nachdenken. Wenn ich manchmal Titelideen habe, dann schreibe ich mir die einfach auf. Wenn ich die Komposition beendete habe, finde ich den Titel manchmal einfach. Le Vin Noir ist ein Wein aus der Gegend von Cahors in Südwestfrankreich, nahe bei Bordeaux. Es ist ein Malbec cépage. Die Trauben sind so kräftig, dass der Wein nicht rot, sondern schwarz ist. Die Winzer der Region nennen den Wein dann „Le Vin Noir“. Ich versuche, ein bisschen Poesie für die Titel zu finden. Manchmal bezieht sich meine Musik auf Ereignisse, die für mich von Bedeutung sind, und dann habe ich auch einen Titel schnell bei der Hand.

Ich danke für das Gespräch.

Das Interview führte ferdinand dupuis-panther.


© Lara Herbinia

Informationen

http://www.alainpierre.com/
https://alainpierreguitarist.wordpress.com/

CD Besprechungen
https://www.jazzhalo.be/reviews/cdlp-reviews/a/alain-pierre-tree-ho-aaron-allen/

Audio
https://alainpierregt.bandcamp.com/releases









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